Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754126516
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Winston wusste nicht, weshalb Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder Inkompetenz. Vielleicht wollte Big Brother auch nur einen zu populär gewordenen Untergebenen loswerden. Möglicherweise waren auch bei Withers oder jemandem, der ihm nahestand, häretische Tendenzen vermutet worden. Oder diese Sache war – am wahrscheinlichsten – nur deswegen passiert, weil purges und vaporizations notwendiger Teil der Mechanik der Herrschaft waren. Den einzigen tatsächlichen Anhaltspunkt gab der Ausdruck unpersons, der darauf hindeutete, dass Withers bereits tot war. Zwar war das nicht immer sicher, wenn Menschen verhaftet wurden, denn manchmal wurden sie bis zur Hinrichtung noch freigelassen, vieleicht für ein Jahr oder sogar zwei, und sehr selten tauchte auch eine schon lange totgeglaubte Person wie ein Gespenst in einem öffentlichen Prozess wieder auf, Hunderte andere durch ihre Zeugenaussagen belastend, bevor sie dann endlich verschwand, diesmal für immer. Withers jedoch war bereits eine UNPERSON: Er existierte nicht. Er hatte nie existiert.
Winston entschied, dass es nicht ausreichen würde, die Tendenz der Rede von Big Brother einfach nur umzukehren. Es war besser, sich auf etwas vollkommen anderes zu beziehen, völlig losgelöst vom ursprünglichen Thema.
Er könnte die Rede in die übliche Denunziation von traitors und thought-criminals verwandeln, aber das war ein wenig zu offensichtlich, und einen Sieg an der Front oder einen Triumph des Übertreffens der Ziele des Neunten Drei-Jahres-Plans zu erfinden, könnte die Aufzeichnungen zu sehr verkomplizieren. Was benötigt wurde, war ein Stück reiner Erfindung. Plötzlich erschien vor Winstons innerem Auge, bereits fertig produziert, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy, der vor Kurzem in der Schlacht gefallen war, unter heldenhaften Umständen. Es gab nämlich Gelegenheiten, bei denen Big Brother seinen Tagesbefehl dem Gedenken an ein einfaches Parteimitglied widmete, dessen Leben und Tod als nachahmenswertes Vorbild gelten konnte. Und so sollte er nun also des Genossen Ogilvy gedenken. Zwar gab es diese Person überhaupt nicht, und es hatte sie auch nie gegeben, aber ein paar Zeilen Druck und ein paar gefälschte Fotos würden ihr nun bald zur Existenz verhelfen.
Winston dachte kurz nach, und formulierte zunächst in Gedanken ein wenig vor, dies im vertrauten Stil von Big Brother; zugleich militärisch und pedantisch und wegen des Tricks, erst Fragen zu stellen und diese dann prompt selbst zu beantworten, auch leicht nachzuahmen: „Welche Lehren ziehen wir aus dieser Tatsache, Genossen? Wir lernen die Lektion – die auch einem der Grundprinzipien von Ingsoc entspricht – dass..., bla, bla, bla...“ Dann zog Winston den speakwrite zu sich heran und begann zu diktieren:
„Bereits im Alter von drei Jahren hatte Genosse Ogilvy alle Spielzeuge außer einer Trommel, einer Maschinenpistole und einem Modellhubschrauber abgelehnt. Im Alter von sechs Jahren – aufgrund einer speziellen Lockerung der Regeln ein Jahr früher als sonst erlaubt – hatte er sich den Spies angeschlossen, und mit neun Jahren war er dort Truppführer geworden. Mit elf, nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, das kriminelle Tendenzen zu haben schien, hatte er seinen eigenen Onkel bei der Thought Police denunziert. Mit siebzehn war Genosse Ogilvy bereits Bezirksorganisator der Junior Anti-Sex League gewesen. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entworfen, die vom Ministerium des Friedens in Dienst gestellt worden war und bei ihrem ersten Einsatz einunddreißig eurasische Kriegsgefangene mit nur einer einzigen Explosion getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf umgekommen: Von feindlichen Düsenflugzeugen verfolgt, während er mit wichtigen Depeschen über den Indischen Ozean flog, hatte er die geheimen Nachrichten an sich genommen, seinen Körper mit einem Maschinengewehr beschwert und war aus dem Hubschrauber ins tiefe Wasser gesprungen – ein Ende, sagte Big Brother, das ohne Neidgefühle zu betrachten nur schwer möglich sei. Big Brother fügte außerdem noch einige Bemerkungen über die Reinheit und Zielstrebigkeit von Genosse Ogilvys Leben hinzu: Er war ein völliger Abstinenzler und Nichtraucher, hatte keinerlei Freizeitbeschäftigungen außer einer täglichen Übungsstunde in der Turnhalle und außerdem ein Zölibatsgelübde abgelegt, da er die Ehe und die Sorge um eine Familie für unvereinbar mit seiner 24/7 notwendigen Hingabe an die Pflicht hielt. Er hatte keine Gesprächsthemen außer den Prinzipien von Ingsoc und kein Lebensziel außer der Niederlage des eurasischen Feindes und der Jagd auf Spione, Saboteure, thought-criminals und traitors im Allgemeinen.“
Winston debattierte mit sich selbst nur noch über die mögliche Verleihung des Ordens für besondere Verdienste an Genosse Ogilvy, entschied sich aber letztlich dagegen, da dies unnötige Querverweise mit sich bringen würde.
Noch einmal warf er seinem Rivalen in der gegenüberliegenden Kabine einen Blick zu. Etwas schien ihm mit Sicherheit zu sagen, dass Tillotson mit der gleichen Arbeit beschäftigt war. Es gab keine Möglichkeit zu erfahren, wessen Entwurf schließlich angenommen werden würde, aber Winston spürte eine tiefe Überzeugung, dass es der von ihm verfasste wäre. Der Genosse Ogilvy, vor einer Stunde noch nicht einmal eine bloße Vorstellung, war nun eine Tatsache. Es kam Winston auf einmal seltsam vor, dass es möglich war, tote Menschen zu erschaffen, aber keine lebenden. Genosse Ogilvy, der in der Gegenwart nie existiert hatte, existierte jetzt in der Vergangenheit, und wenn der Akt der Fälschung erst vergessen sein würde, dann würde Genosse Ogilvy ebenso authentisch und aufgrund derselben Beweise existieren wie Julius Caesar oder Karl der Große.
V
Unter der niedrig hängenden Decke der im Keller befindlichen Kantine rückte die Warteschlange langsam weiter. Der Raum war bereits sehr voll und ohrenbetäubend laut. Aus dem Gitter an der Theke strömte der Dunst von Eintopf, mit einem sauren, metallischen Geruch, der in seiner Stärke nur noch übertroffen wurde von dem des allgegenwärtigen Victory Gin: Auf der anderen Seite des Raums befand sich eine kleine Bar, eher ein bloßes Loch in der Wand, an dem es the stuff zu kaufen gab, für zehn Cent den großen Schluck.
„Genau der Mann, den ich suche“, sagte eine Stimme hinter Winston.
Er drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. Vielleicht war allerdings „Freund“ nicht ganz das richtige Wort: Heutzutage gab es keine Freunde; es gab Genossen. Aber es gab einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Philologe, ein Spezialist für Newspeak. Tatsächlich gehörte er dem riesigen Expertenteam an, das gerade mit der Zusammenstellung der elften Ausgabe des Newspeak-Wörterbuchs beschäftigt war. Er war ein winziges Geschöpf, kleiner als Winston, mit dunklem Haar und großen, hervorquellenden Augen, traurig und spöttisch zugleich, die das Gesicht seines Gegenübers aus nächster Nähe abzusuchen schienen, wenn er mit jemandem sprach.
„Ich wollte dich fragen, ob du noch Rasierklingen hast“, sagte er.
„Nicht eine einzige“, antwortete Winston mit schuldigem Unterton. „Ich habe überall versucht, welche zu bekommen. Sie existieren einfach nicht mehr.“
Alle fragten dauernd nach Rasierklingen. Tatsächlich hatte Winston noch zwei unbenutzte, die er sorgsam aufbewahrte. In den vergangenen Monaten hatte ein Mangel an Rasierklingen geherrscht. Stets gab es einen notwendigen Artikel, den die Parteigeschäfte nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfwolle, manchmal Schnürsenkel; und nun waren es eben Rasierklingen. Sie waren, СКАЧАТЬ