Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754126516
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Winston fand zwei zerknitterte und schmutzige Banknoten, die er Parsons gab, und dieser trug die Summe in ein kleines Notizbuch ein, in der sauberen Handschrift des funktionalen Analphabeten.
„Übrigens, Kumpel“, sagte er. „Ich habe gehört, dass mein Sohn, dieser Verrückte, gestern mit seinem Katapult auf dich geballert hat, als du bei mir warst. Ich habe ihm dafür eine kleine Abreibung verpasst. Ich habe ihm sogar gesagt, dass ich ihm das Ding wegnehmen werde, wenn das so weitergeht.“
„Ich denke, er war nur ein wenig wütend, weil er nicht zu der Hinrichtung durfte“, beschwichtigte Winston.
„Er zeigt die richtige Haltung, nicht wahr? Durchtriebene kleine Biester sind sie, alle beide, aber was für eine cleverness! Alles, an was die beiden denken, sind die Spies. Und natürlich der Krieg. Weißt du, was meine Kleine letzten Sonnabend gemacht hat, als ihre Truppe auf einer Wanderung war, außerhalb von Berkhamsted? Sie nahm zwei andere Mädels mit, und gemeinsam entfernten sie sich von der Gruppe und verbrachten den ganzen Nachmittag damit, einem fremden Mann zu folgen. Sie blieben ihm zwei Stunden lang auf den Fersen, mitten durch den Wald, und dann, als sie nach Amersham kamen, übergaben sie ihn den patrols.“
„Wie kamen sie denn darauf?“, wollte Winston etwas verwundert wissen.
Parsons erklärte mit Triumph in der Stimme: „My little girl vergewisserte sich, dass er eine Art feindlicher Agent war. Vielleicht war er mit dem Fallschirm abgesprungen. Und das ist nun das Entscheidende, mein alter Kumpel: Was, glaubst du, hat sie darauf gebracht? Sie bemerkte, dass er seltsame Schuhe trug; sie sagte, sie habe noch nie jemanden gesehen, der solch komische Schuhe anhatte. Die Chancen standen also gut, dass er ein Ausländer war. Ziemlich clever für eine kleine siebenjährige Zicke, was?“
„Was geschah mit dem Mann?“, fragte Winston.
„Ah, das kann ich natürlich nicht sagen. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn...“ Parsons zielte wie mit einem Gewehr und schnalzte mit der Zunge, um das Schussgeräusch zu imitieren.
„Sehr schön“, sagte Syme abwesend, ohne von seinem Stück Papier aufzusehen.
„Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten, Risiken einzugehen“, stimmte Winston pflichtbewusst zu.
„Das meine ich: Wir haben schließlich Krieg“, bekräftigte Parsons.
Wie zur Bestätigung erklang ein Trompetensignal aus dem telescreen unmittelbar über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich jedoch nicht um die Proklamation eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Ankündigung des Ministeriums des Überflusses.
„Genossen!“, rief eine eifrige jugendliche Stimme. „Achtung, Genossen! Wir haben ruhmreiche Neuigkeiten für alle: Wir haben die Schlacht um die Produktion gewonnen! Die Auswertung aller Kennziffern für die Produktion von Konsumgütern ist nun abgeschlossen und hat ergeben, dass unser Lebensstandard im vergangenen Jahr um nicht weniger als zwanzig Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien gab es heute Morgen unbändige spontane Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros herausmarschierten, um durch die Straßen zu ziehen und auf Transparenten die unermessliche Dankbarkeit der Bevölkerung Ozeaniens gegenüber Big Brother auszudrücken: für das Geschenk seiner weisen Führung, die uns unser neues, glückliches Leben erst ermöglicht hat. Hier sind einige der vollständigen Kennziffern: Lebensmittel...“
Die Wendung „unser neues, glückliches Leben“ tauchte mehrmals auf. In letzter Zeit hatte das Ministerium des Überflusses bevorzugt zu dieser Phrase gegriffen. Parsons, gebannt durch den Trompetenruf, saß und lauschte mit einer Art dümmlicher Feierlichkeit, wie mit erbauter Langeweile. Er konnte den Zahlen nicht folgen, aber er war sich bewusst, dass sie in gewisser Weise ein Grund zur Zufriedenheit waren. Er hatte eine riesige, dreckige Pfeife herausgekramt, die bereits halb voll mit verkohltem Tabak war. Bei einer Ration von hundert Gramm pro Woche war es selten möglich, eine Pfeife bis oben hin zu füllen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die neue Ration gab es erst morgen, und er hatte bis dahin nur noch vier Stück. Für den Moment hatte er seine Ohren vor den Geräuschen der Umgebung verschlossen und lauschte dem Zeug, das aus dem telescreen drang. Es schien sogar demonstrations gegeben zu haben, um Big Brother für die Anhebung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Und doch, so überlegte Winston, war erst gestern bekannt gegeben worden, dass die Zuteilung auf zwanzig Gramm pro Woche REDUZIERT werden sollte. War es möglich, dass sie das einfach hinnahmen, nach nur vierundzwanzig Stunden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es leicht, mit der Dummheit eines Tieres. Die augenlose Kreatur am anderen Tisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich; mit dem wütenden Wunsch, jeden aufzuspüren, zu denunzieren und vaporized zu wissen, der es wagen sollte, daran zu erinnern, dass letzte Woche die Ration noch dreißig Gramm betragen hatte. Und auch Syme – in einer mehr komplexen Art und Weise, bei der doublethink im Spiel war – Syme schluckte es auch. Und Winston fragte sich, wieder einmal: War er selbst in diesem ganzen Wahnsinn denn der EINZIGE mit einem noch funktionierenden Erinnerungsvermögen?
Die fabelhaften Statistiken strömten weiterhin nur so aus dem telescreen: Im Vergleich zum letzten Jahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Häuser, mehr Möbel, mehr Kochtöpfe, mehr Treibstoff, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Babys – mehr von allem außer Krankheit, Kriminalität und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute bewegten sich alles und jeder immer schneller nach oben, immer weiter aufwärts. Wie schon Syme zuvor hatte Winston den Löffel genommen, spielte damit in der auf der Tischplatte verteilten blassen grauen Soße herum, formte sie zu einem Muster und meditierte dabei über die physische Beschaffenheit des Lebens: War es schon immer so gewesen? Hatte Nahrung schon immer so geschmeckt? Winston sah sich in der Kantine um: ein niedriger, überfüllter Raum, die Wände verdreckt von der ständigen Berührung mit unzähligen menschlichen Körpern; abgeranzte Metalltische und -stühle, so nah beieinander aufgestellt, dass diejenigen, die darauf saßen, mit den Ellenbogen zusammenstießen; verbogene Löffel, verbeulte Tabletts, klobige weiße Becher; alle Oberflächen fettig; Schmutz in jedem Kratzer – und über alldem ein säuerlich vermischter Geruch aus miesem Gin und schlechtem Kaffee, metallisch schmeckendem Eintopf und dreckiger Kleidung. Das alles verursachte ein Gefühl im Magen und unter der Haut, um etwas betrogen worden zu sein, auf das es doch ein verdammtes Recht geben musste. Allerdings wusste Winston nicht, was genau das sein sollte, denn so weit er zurückdenken konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben; die Socken und die Unterwäsche waren voller Löcher, die Möbel ramponiert und klapprig, die Räume ständig schlecht beheizt, die U-Bahnen überfüllt, die Häuser zerfallen, das Brot dunkel, echter Tee eine Rarität, der Kaffee von widerlichem Geschmack, die Zigaretten stets zu knapp; nichts war billig und reichlich vorhanden – außer synthetischem Gin. Und obwohl bei alldem sicher auch die zunehmende Alterung des Körpers dazu beitragen mochte, dass es im Laufe der Jahre nicht einfacher wurde, so verließ Winston doch niemals die dumpfe Ahnung, dass es trotzdem NICHT die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn das Herz krankte an der Unbequemlichkeit und dem Mangel und dem allgegenwärtigen Dreck; an den endlosen Wintern, der Klebrigkeit der Socken, den nie funktionierenden Aufzügen, dem kalten Wasser, der körnigen Seife, den Zigaretten, aus denen der Tabak zu Boden fiel; dem Essen mit seinem seltsam ekelhaften Geschmack. Wieso nur, fragte sich Winston also immer wieder, kam ihm das alles denn hier so unerträglich vor, wenn er doch keine Erinnerung mehr an die längst vergangenen Zeiten hatte, in denen es vielleicht einmal anders gewesen sein mochte? Weshalb nur erschien ihm diese Welt denn so unglaublich schrecklich?
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