Название: 1984
Автор: George Orwell
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754126516
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„Außer...“, begann Winston zweifelnd, unterbrach sich dann aber. Es hatte ihm auf der Zunge gelegen zu sagen: „Außer den Prolls“, aber er überprüfte sich selbst und war sich nicht völlig sicher, ob eine solche Bemerkung nicht auf die eine oder andere Art unorthodox wäre.
Syme, wie auch immer, hatte erspürt, was gemeint gewesen war. „Die Prolls zählen nicht; die sind keine Menschen“, sagte er leichthin. „Bis 2050 – wahrscheinlich schon früher – wird jede echte Kenntnis des Oldspeak verschwunden und auch die ganze Literatur der Vergangenheit vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron wird es nur noch als Newspeak-Versionen geben; nicht nur verändert in etwas anderes, sondern tatsächlich verwandelt in das Gegenteil von dem, was sie einmal waren. Auch die Literatur der Partei wird sich ändern. Sogar die Parolen werden sich ändern. Welchen Sinn sollte ein solcher slogan wie ‚Freiheit ist Sklaverei’ noch haben, wenn das gesamte Konzept der Freiheit nicht mehr verständlich und damit nicht mehr vorhanden ist? Das ganze Klima des Denkens wird anders sein. Tatsächlich wird es nicht einmal mehr Gedanken in der Form geben, wie wir jetzt noch das Wort ‚Gedanken’ verstehen. Orthodoxie bedeutet, nicht zu denken – nicht denken zu müssen. Orthodoxie ist Unbewusstheit.“
„Eines Tages“, dachte Winston plötzlich mit tiefer Überzeugung, „wird Syme vaporized werden. Er ist zu intelligent. Er sieht zu klar und spricht zu deutlich. Die Partei mag solche Leute nicht. Eines Tages wird er verschwinden. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben.“
Winston hatte sein Brot und seinen Käse aufgegessen. Er setzte sich ein wenig bequemer hin, um seinen Becher Kaffee zu trinken. Am Tisch zu seiner Linken redete der Mann mit der schrillen Stimme immer noch erbarmungslos vor sich hin. Eine junge Frau, die vielleicht seine Sekretärin war und mit dem Rücken zu Winston saß, hörte zu und schien eifrig allem zuzustimmen. Ab und zu drang eine Bemerkung zu Winston durch wie: „Ich denke, Sie haben ja so recht; ich stimme Ihnen ganz und gar zu!“; vorgebracht mit in einer jugendlichen und kaum ernstzunehmenden weiblichen Stimme. Aber der Mann hörte nie auf zu reden, auch dann nicht, wenn das Mädchen gerade sprach. Winston kannte ihn vom Sehen, obwohl er nicht mehr über ihn wusste, als dass er ein wichtiges Amt in der Belletristikabteilung innehatte: ein Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem muskulösen Hals und einem großen, beweglichen Mund. Er hatte den Kopf ein wenig zurückgeworfen, und wegen des Winkels, in dem er saß, spiegelte seine Brille das Licht wider, und so sah Winston nur zwei leere Scheiben anstelle der Augen. Was allerdings an alldem am schrecklichsten war: In dem Schwall von Lauten, der sich aus dem Mund des Mannes ergoss, war es fast unmöglich, einzelne Worte voneinander zu unterscheiden. Nur einmal hörte Winston den Teil eines Satzes heraus: „...vollständige und endgültige Beseitigung des Goldsteinismus’...“, was allerdings sehr schnell und in einem Stück gesprochen klang, als würde eine einzige, durchgezogene Schriftlinie ohne Pausen vorgelesen. Alles andere war nur Lärm, wie ein fortwährendes Klappern, Krächzen und Kreischen. Und obwohl nicht zu hören war, was genau der Mann sagte, so blieb doch kein Zweifel an der allgemeinen Natur seiner Worte: Vielleicht empörte er sich über Goldstein und forderte strengere Maßnahmen gegen thought-criminals und saboteurs, vielleicht war er wütend über die Gräueltaten der eurasischen Armee, vielleicht erging er sich auch in Lobpreisungen auf Big Brother oder die Helden an der Malabar-Front – es machte keinen Unterschied: Was auch immer es war, so konnte doch keinerlei Zweifel daran bestehen, dass jedes Wort davon reine Orthodoxie, reiner Ingsoc war. Als er das augenlose Gesicht mit dem sich schnell auf und ab bewegenden Kiefer beobachtete, hatte Winston auf einmal das seltsame Gefühl, dass dies kein echtes menschliches Wesen wäre, sondern eine Art dummy. Es war nicht das Gehirn des Mannes, das sprach; es war der Kehlkopf. Das Zeug, das aus ihm herauskam, bestand zwar aus Worten, aber es war weniger eine Art von Rede, sondern eher ein unbewusst erzeugtes Geräusch, wie das Schnattern einer Ente.
Syme war kurz verstummt, und mit dem Stiel seines Löffels zeichnete er Muster in dem Klecks Eintopf nach. Die Stimme vom anderen Tisch quäkte unaufhaltsam weiter, deutlich hörbar trotz des umgebenden Lärms. „Es gibt da ein Wort in Newspeak “, sagte Syme. „Ich weiß nicht, ob du es kennst: DUCKSPEAK, schnattern wie eine Ente. Es ist eines dieser interessanten Wörter, die zwei widersprüchliche Bedeutungen haben: Angewandt auf einen Gegner bezeichnet es dummes Gerede ohne Inhalt, bezogen auf jemanden, der die reine Lehre besonders verinnerlicht hat, drückt es höchstes Lob aus.“
„Ohne jede Frage wird Syme vaporized werden“, dachte Winston erneut. Und es überkam ihn eine Art von Traurigkeit dabei, obwohl er sehr gut wusste, dass Syme ihn verachtete und nicht besonders mochte und jederzeit in der Lage wäre, ihn als thought-criminal zu denunzieren, wenn er dafür einen Grund sähe. Da war etwas auf eine kaum fassbare Weise falsch mit Syme. Es gab etwas, das ihm fehlte: Diskretion, Distanziertheit, eine Art rettender Dummheit. Es ließ sich nicht von ihm sagen, er wäre unorthodox. Er glaubte an die Prinzipien von Ingsoc, er verehrte Big Brother, er freute sich über militärische Siege, er hasste Abweichler; allerdings nicht so sehr mit Aufrichtigkeit, sondern eher mit einer Art von rastlosem Eifer; einem überragenden Wissensstand, den das gewöhnliche Parteimitglied nicht hatte. Und so war Syme stets wie von einer winzigen Anrüchigkeit umgeben: Er sagte Dinge, die besser ungesagt geblieben wären, er hatte zu viele Bücher gelesen, er besuchte öfter das Chestnut Tree Cafe, einen Treffpunkt von Malern und Musikern. Es gab keine Vorschrift, nicht einmal eine ungeschriebene, die das verboten hätte, aber dennoch hatte dieses Lokal einen schlechten Ruf: Die alten, diskreditierten Führer der Partei waren an diesem Ort zusammengebracht worden, bevor sie endgültig purged wurden. Sogar Goldstein selbst, so hieß es, sei manchmal dort zu Gast gewesen, vor Jahren und Jahrzehnten. Symes Schicksal war also nicht schwer vorauszusehen. Und doch war es eine Tatsache, dass er, wenn er das Wesen von Winstons geheimen Ansichten begriffe, und wäre es bloß für drei Sekunden, ihn sofort und ohne den Hauch eines Zögerns an die Thought Police ausliefern würde. Was das betraf, würde das zwar auch jeder andere tun, aber Syme mehr als die meisten. Eifer war nicht genug. Orthodoxie ist Unbewusstheit.
Syme sah auf und meinte: „Da kommt Parsons“, und es klang ein wenig wie: „Dieser verdammte Blödmann!“
Parsons, Winstons Flurnachbar in den Victory Mansions, zog tatsächlich seine Bahn durch den Raum: ein dicker, mittelgroßer Mann mit hellem Haar und einem froschartigen Gesicht. Mit fünfunddreißig Jahren hatte er bereits Fettrollen an Hals und Taille angelegt, aber seine Bewegungen waren rasch und knabenhaft. Sein ganzes Äußeres war das eines zu groß gewordenen kleinen Jungen und dies auf eine Weise, dass es, trotzdem er den vorgeschriebenen Overall trug, beinahe unmöglich war, ihn sich nicht in den blauen Shorts, dem grauen Hemd und dem roten Halstuch der Spies vorzustellen. Wer an ihn dachte, der sah stets ein Bild vor sich von Kniegrübchen und pummeligen Unterarmen in hochgerollten Ärmeln. Und tatsächlich griff Parsons unvermeidlich auf kurze Hosen zurück, wenn ihm eine Gemeinschaftswanderung oder eine andere körperliche Aktivität einen Vorwand dafür bot. Er begrüßte die beiden am Tisch mit einem fröhlichen „Hallöööchen“, setzte sich und verströmte einen intensiven Schweißgeruch. Perlen von Feuchtigkeit standen überall auf seinem rosa Gesicht. Seine Fähigkeit zu schwitzen, war außergewöhnlich stark. Im Gemeindezentrum war es immer an der Feuchtigkeit des Griffs der Tischtenniskelle zu erkennen, wenn Parsons gespielt hatte.
Syme hatte sich mittlerweile einen Papierstreifen hergestellt, auf dem sich eine lange Liste von Worten befand, und studierte sie nun, mit einem Tintenstift zwischen den Fingern.
„Sieh’ ihn nur an, wie er sogar in der Mittagspause arbeitet!“, sagte Parsons und stupste Winston an. „Toll, was? Was macht er da, Kumpel? Etwas, das ein wenig zu hoch für mich ist, nehme ich an. Smith, alter Junge, ich sage dir, weshalb ich hinter dir her bin: Es ist der Beitrag, den du vergessen hast, mir zu geben.“
„Welches Abo ist es denn?“, fragte Winston und fühlte in seiner Tasche automatisch nach etwas Geld. Ungefähr ein Viertel des Gehalts mussten für freiwillige Mitgliedschaften reserviert СКАЧАТЬ