1984. George Orwell
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Читать онлайн книгу 1984 - George Orwell страница 8

Название: 1984

Автор: George Orwell

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783754126516

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СКАЧАТЬ auf. Sie waren an einem unterirdischen Ort – vielleicht auf dem Grund eines Brunnens oder in einem sehr tiefen Grab – aber auf jeden Fall war es ein Ort, der sich, obwohl er bereits schon weit unter Winston lag, immer noch weiter nach unten bewegte. Seine Mutter und seine Schwester befanden sich im Salon eines sinkenden Schiffs und blickten durch das sich verdunkelnde Wasser nach oben. Es war noch Luft im Salon; sie konnten Winston noch sehen und er sie, aber die ganze Zeit über sanken sie weiter hinab, hinunter in die grüne Tiefe, die seine Mutter und seine Schwester im nächsten Augenblick für immer verschlingen würde. Er war oben im Licht und in der Luft, während sie in den Tod gezogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Winston wusste es, und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern sehen. Es gab keinen Vorwurf, weder in ihren Gesichtern oder in ihren Herzen, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bleiben konnte, und dies Teil der unvermeidlichen Ordnung der Dinge war.

      Winston konnte sich nicht mehr erinnern, was genau geschehen war, aber er wusste in seinem Traum, dass auf eine ihm nicht mehr bekannte Weise die Leben seiner Mutter und seiner Schwester geopfert worden waren, um seins zu retten. Es war einer jener Träume, die unter Beibehaltung der charakteristischen Traumlandschaft eine Fortsetzung des geistigen Lebens sind und in denen Fakten und Ideen bewusst werden, die auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Winston verstand plötzlich, dass der Tod seiner Mutter, vor fast dreißig Jahren, auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, die es heute nicht mehr geben konnte. Die Tragödie, so erkannte Winston nun, gehörte zu einer uralten Zeit; zu einer Zeit, als es noch Privatheit, Liebe und Freundschaft gab; einer Zeit, in der die Mitglieder einer Familie einander beistanden, ohne wissen zu müssen, weshalb. Die Erinnerung an seine Mutter schmerzte Winston seinem Herzen, weil sie für ihn gestorben und er noch zu jung und selbstsüchtig gewesen war, um sie so lieben zu können, wie sie ihn geliebt hatte, und vielleicht auch deshalb, weil ihr Tod einer Konzeption von Loyalität entsprach, die persönlich und unveränderlich war. Solche Dinge, das verstand Winston nun deutlich, konnten heute nicht mehr geschehen, denn nun gab es nur noch Angst, Hass und Schmerz, aber keine Würde des Gefühls, keine tiefe oder vielschichtige Trauer mehr. Und all dies schien Winston in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu sehen, die zu ihm aufschauten durch das grüne Wasser, Hunderte von Faden tief und immer noch tiefer sinkend.

      Plötzlich stand er auf einem kurzgeschnittenen, federnden Rasen, an einem Sommerabend, die schräg einfallenden Sonnenstrahlen vergoldeten den Boden. Die Landschaft, in der er sich befand, kehrte so oft in seinen Träumen wieder, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie in der realen Welt gesehen hatte oder nicht. In seinen wachen Gedanken nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen abgegraste Weide, mit einem kleinen Trampelpfad, der darüber hinwegführte, und ab und zu einem Maulwurfshügel. In der zerzausten Hecke auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes wiegten sich die Äste der Ulmen sehr schwach im Wind, ihre Blätter in dichten Massen wirbelnd wie Frauenhaar. In der Nähe, wenn auch außer Sichtweite, gab es einen klaren, langsam fließenden Bach, in dem Weißfische in den Tümpeln unter den Weidenbäumen schwammen.

      Das Mädchen mit dem dunklen Haar kam ihm über das Feld entgegen. Wie mit einer einzigen Bewegung riss sie sich ihre Kleider vom Leib und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, aber er erregte in Winston kein Verlangen; er sah nicht einmal richtig hin, denn was ihn in diesem Augenblick stattdessen überwältigte, war die Geste, mit der sich das Mädchen ihrer Kleidung entledigt hatte: Mit ihrer Anmut und Sorglosigkeit schien sie eine ganze Kultur auszulöschen, ein ganzes Denksystem, als ob Big Brother und die Partei und die Thought Police mit einer einzigen überwältigenden Armbewegung ins Nichts gefegt werden könnten. Auch das war eine Geste aus der längst vergangenen Zeit. Winston erwachte mit dem Wort „Shakespeare“ auf den Lippen.

      Der telescreen gab ein ohrenbetäubendes Pfeifen von sich, immer weiter in derselben Tonlage, dreißig Sekunden lang. Es war 07-15, Zeit zum Aufstehen für Büroangestellte. Winston quälte seinen Körper aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt jährlich nur dreitausend Bekleidungsmarken, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und griff sich ein schmuddeliges Unterhemd und ein Paar Unterhosen, die gegenüber auf einem Stuhl lagen. Die Körperübungen würden in drei Minuten beginnen. Im nächsten Augenblick wurde Winston von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, wie sie ihn fast immer kurz nach dem Aufwachen ereilten, und seine Lungen entleerten sich dabei so vollständig, dass er nur wieder Luft bekommen konnte, indem er sich rücklings hinlegte und eine Reihe von tiefen Atemzügen machte. Seine Venen waren angeschwollen unter der Anstrengung des Hustens, und das Krampfadergeschwür hatte zu jucken begonnen.

      „Gruppe dreißig bis vierzig“, kläffte eine durchdringende Frauenstimme. „Gruppe dreißig bis vierzig! Nehmen Sie bitte Ihre Plätze ein. Dreißiger bis Vierziger!“

      Winston hielt sich vor dem telescreen bereit, auf dem bereits das Bild einer jungen, dürren, aber muskulösen Frau in Sportkleidung und Turnschuhen erschienen war.

      „Arme beugen und strecken!“, legte sie los. „Übernehmen Sie den Takt von mir! EINS, zwei, drei, vier! EINS, zwei, drei, vier! Gebt Euch Mühe, Genossen, ein bisschen mehr Anstrengung! EINS, zwei, drei, vier! EINS, zwei, drei, vier!“

      Der Schmerz des Hustenanfalls hatte den Traum nicht ganz aus Winstons Erinnerung vertrieben, und die rhythmischen Bewegungen verstärkten die Bilder noch. Als er mechanisch seine Arme vor und zurück streckte, auf seinem Gesicht den Blick grimmigen Vergnügens tragend, der während der Körperübungen als angemessen galt, versuchte er mühsam, sich an die düstere Zeit seiner frühen Kindheit zu erinnern. Es war außerordentlich schwierig, und jenseits der späten 1950er verblasste alles. Wenn es keine äußeren Aufzeichnungen gibt, um sich darauf zu beziehen, verlieren sogar die Umrisse des eigenen Lebens an Schärfe. Es gab Erinnerungen an große Ereignisse, die wahrscheinlich gar nicht stattgefunden hatten; auch an Einzelheiten einiger Vorfälle, ohne aber den Gesamtzusammenhang noch zu kennen, und es gab lange leere Zeiten, denen sich gar nichts mehr zuordnen ließ. Damals war alles anders gewesen, selbst die Namen der Länder und ihre Formen auf der Landkarte: Airstrip One war früher nicht so genannt worden, sondern England oder auch Great Britain, obwohl London, da war Winston sich sicher, schon immer London geheißen hatte.

      Ihm war allerdings nicht mehr vollkommen klar, wie lange die ständigen militärischen Auseinandersetzungen bereits andauerten, doch erschien es ihm so, als hätte es während seiner Kindheit eine Zeitlang gar keine gegeben, denn eine seiner frühen Erinnerungen war jene an einen Luftangriff, der alle zu überraschen schien. Vielleicht war es die Zeit gewesen, in der die Atombombe auf Colchester gefallen war. Winston wusste allerdings nichts mehr über die genauen Umstände, sondern hatte lediglich noch einzelne Bilder im Gedächtnis, wie die Hand seines Vaters seine eigene umklammerte, als sie hinunter eilten, hinunter, hinunter, an einen Ort tief unten in der Erde, immer wieder im Kreis eine Wendeltreppe entlang, die unter Winstons Füßen schepperte und seine Beine so ermüdete, dass er zu wimmern begann und sie deswegen anhalten und sich ausruhen mussten. Seine Mutter, in ihrer langsamen, verträumten Art, folgte ihnen mit großem Abstand. Sie war mit seiner kleinen Schwester schwanger; vielleicht war es aber auch nur ein Bündel Decken, das sie trug; er war sich nicht sicher, ob seine Schwester zu dieser Zeit bereits geboren worden war. Schließlich waren sie an einem lauten, überfüllten Ort angekommen, den er als eine U-Bahn-Station erkannte.

      Überall auf dem gefliesten Boden saßen Menschen, und andere wiederum, dicht gedrängt, auf Metallbetten, die eins über dem anderen aufgestapelt waren. Winston und seine Mutter und sein Vater fanden einen Platz auf dem Boden, und neben ihnen saßen ein alter Mann und eine alte Frau. Der alte Mann trug einen zurückhaltenden dunklen Anzug und eine schwarze Stoffmütze unter störrischem sehr weißem Haar. Das Gesicht des Mannes war scharlachrot, die Augen blau und voller Tränen. Er stank nach Gin, der anstelle von Schweiß aus seiner Haut zu quellen schien, und sogar die Tränen dieses Mannes schienen nichts als reiner Gin zu sein. Aber obwohl der alte Mann betrunken war, litt er auch unter einer Trauer, die echt und unerträglich wirkte. СКАЧАТЬ