Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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»Sie bleiben sehr lange!« seufzte Fantine.
In diesem Augenblick trat der Kellner, der sie bedient hatte, herein, mit einem Papier, das wie ein Brief aussah.
»Was ist das?« fragte Favourite.
»Ein Billet, das die Herren hinterlassen haben und das ich den Damen geben sollte.«
»Warum ist das nicht gleich gebracht worden?«
»Weil die Herren befohlen haben, es sollte den Damen erst nach Verlauf einer Stunde zugestellt werden.
Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand:
Was? Keine Adresse. Aber statt dessen steht darauf:
Dies ist die Ueberraschung.
Sie erbrach hastig den Brief und las, denn sie konnte lesen:
»O theure Geliebte!
Wisset, daß wir Eltern haben. Was Eltern sind, davon habt Ihr keine rechte Wissenschaft. So was nennt der Civiloder Anstandskodex Vater und Mutter. Diese Eltern also seufzen, diese Alten sehnen sich nach uns, diese guten Männlein und Weiblein schelten uns verlorne Söhne, wünschen, daß wir zurückkehren, und erbieten sich uns zu Ehren Kälber zu schlachten. Da wir tugendhaft sind, gehorchen wir ihnen. Zur Zeit, wo ihr dieses leset, bringen uns fünf edle Rosse heimwärts, zu unsern Papas und Mamas. Wir schrammen ab, um uns der gewählten Ausdrucksweise unsrer Musterschriftsteller zu bedienen. Wir machen uns auf die Strümpfe, wir sind jetzt schon auf den Strümpfen. Die Deligence entreißt uns dem Abgrund, und der Abgrund seid Ihr, holde Kleinen! Wir kehren in die Gesellschaft, zur Pflicht, zur Ordnung im schnellsten Trabe, zwölf Kilometer per Stunde zurück. Es liegt im Interesse des Vaterlands, daß wir wie jeder Andre, Präfekten, Familienväter, Feldhüter und Staatsräthe werden. Heget also Ehrfurcht vor uns, denn wir üben Selbstverleugnung. Beweinet uns recht schnell und suchet baldigen Ersatz für uns. Wenn dieser Brief Euch das Herz zerreißt, so vergeltet ihm Gleiches mit Gleichem. Lebet wohl.
Nahezu zwei Jahre lang haben wir Euch glücklich gemacht. Tragt es uns nicht nach.
Unterzeichnet: Blachevelle.
Fameuil.
Listolier.
Felix Tholomyès.
P.S. Die Zeche ist bezahlt.«
Die vier jungen Mädchen sahen einander an.
Favourite brach zuerst das Stillschweigen.
»Es ist ein ganz guter Witz, das muß man sagen.«
»Es ist zum Lachen,« stimmte Sephine bei.
»Das ist ein Einfall von Blachevelle,« sagte Favourite. »Nun könnte ich mich in ihn verlieben. Die alte Geschichte. Sobald er weg ist, liebt sie ihn.«
»Bewahre!« entgegnete Dahlia. »Das hat Tholomyès ausgeheckt. Das ist doch leicht zu merken.«
»Dann nieder mir Blachevelle, und Tholomyès lebe hoch!« rief Favourite.
Es lebe Tholomyès! schrieen Dahlia und Sephine.
Und die drei lachten laut auf.
Fantine lachte mit.
Aber eine Stunde später, als sie nach Hause gekommen war, weinte sie. War doch Tholomyès wie schon erwähnt, ihre erste Liebe, und die Aermste ein Kind.
I. Zwei Mütter
In dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts war in Montfermeil bei Paris eine Gastwirtschaft, die gegenwärtig nicht mehr existiert. Die Inhaber hießen Thénardier, Mann und Frau. Sie lag in der Ruelle du Boulanger. Ueber der Thür sah man ein an der Mauer festgenageltes Brett. Darauf war etwas gemalt, das aussah wie ein Mann, der einen andern auf dem Rücken trägt, und dieser Andre hat große goldne Generalsepauletten mit breiten, silbernen Sternen; rothe Kleckse stellten Blut vor; das Uebrige war Rauch, und das Ganze sollte wohl eine Schlacht sein. Darunter las man die Aufschrift: Zum Sergeanten von Waterloo.
Nichts ist gewöhnlicher als ein Rollwagen oder Karren vor der Thür einer Herberge. Indessen das Fuhrwerk oder besser gesagt, das Bruchstück von Fuhrwerk, das an einem Abend des Frühjahrs 1818 vor dem »Sergeanten von Waterloo« sich breit machte, hätte sicherlich wegen seines gewaltigen Volumens die Aufmerksamkeit eines Malers auf sich gezogen, wenn ein Solcher hier vorbeigekommen wäre.
Es war das Vordergestell eines Blockwagens, wie man sie in Waldgegenden zum Transport von Bohlen und Baumstämmen benutzt. Dieses Gestell bestand aus einer massiven, eisernen Achse, in die eine schwere Deichsel eingezapft war und von ungeheuren Rädern getragen wurde. Das Ganze war entsetzlich schwerfällig und ungestaltet. Es ähnelte der Laffette einer Riesenkanone. Der Lehm, der im Laufe der Zeit an den Rädern, Felgen, Naben, an der Achse und Deichsel kleben geblieben war, bildete eine häßliche gelbe Schicht, die dem Anstrich alter Kirchen ziemlich ähnlich sah. Das Holz war unter dem Koth und das Eisen unter dem Rost kaum noch zu erkennen. Unter der Achse hing eine schwere Kette, die eines Goliaths im Zuchthause würdig gewesen wäre. Beim Anblick dieser Kette dachte man nicht an den Transport von Balken, sondern an ein Gespann von Mastodonten und Mammuthen. Oder sie erinnerte an ein Cyklopenzuchthaus. Homer hätte sie für seinen Polyphem und Shakespeare für Caliban beansprucht.
Weshalb stand dieses Vordergestell an diesem Orte? Erstens um auf der Straße hinderlich zu sein, und zweitens um weiter zu rosten. Es war ein Hemmniß ohne irgend welchen Berechtigungsgrund, aber kein so unsinniges als die, welche fortwährend die alten staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen dem Fortschritt in den Weg stellen.
Die Mitte der Kette hing unter der Achse so tief herab, daß sie fast den Erdboden berührte, und auf der Krümmung saßen, wie auf einer Schaukel an jenem Abend zwei allerliebste kleine Mädchen, von denen die älteste zwei und ein halbes Jahr, und die jüngste, die sie mit Ihren Armen umschlungen hielt, und anderthalb Jahre alt sein mochte. Ein kunstreich gebundnes Tuch verhinderte, daß sie herunterfallen konnten. Das Ungethüm von Kette war von einer Mutter dazu auserlesen worden, ihren Kindern als Spielzeug zu dienen.
Die recht niedlich und mit einer gewissen Eleganz geputzten kleinen Mädchen strahlten vor Freude; aus ihren Augen leuchtete übermüthiger Triumph und die frischen Bäckchen lachten. Die Eine hatte kastanienfarbiges Haar, die Andre war brünett. Ihre naiven Gesichtchen bekundeten entzückte Verwundrung; die jüngste zeigte ihr bloßes Bäuchlein mit der ganzen harmlosen Ungeniertheit der Kindheit. Unter und neben den beiden Köpfchen bildete die fast grausig anzuschauende Kette mit der Achse gleichsam den Eingang zu einer dunkeln Höhle. Wenige Schritte davon, saß auf der Schwelle der Herberge die Mutter, eine Frau von keineswegs einnehmendem Aeußeren, die aber zur Zeit einen rührenden Eindruck machte. Sie schaukelte die beiden kleinen mittels eines langen Bindfadens und überwachte ängstlich ihre Bewegungen mit jenem halb thierischen, halb himmlischen Gesichtsausdruck, der allen Müttern eigen ist. Bei jeder Schwingung kreischten die Eisenringe abscheulich auf; die Kleinen jubilierten, die untergehende Sonne that auch das Ihrige um das Schauspiel zu verschönern, und man konnte sich nichts Reizenderes denken, als die Laune des Zufalls, die eine Titanenkette zu einer Schaukel für Cherubim benutzte.
Während sie ihre beiden Kleinen СКАЧАТЬ