Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Trotz alledem fand Favourite, daß man nie glücklich genug sein kann. »Wie steht's mit der Ueberraschung?« forschte sie von Zeit zu Zeit. »Geduld!« antwortete Tholomyès.
V. Bei Bombarda
Nachdem sie die Rutschbahn gründlich ausgekostet, stellte sich endlich Müdigkeit und Hunger ein und so fielen sie bei Bombarda hinein, dem berühmten Restaurateur in den Champs-Elysées, der auch in der Rue de Rivoli ein Lokal hatte.
Ein großes, aber häßliches Zimmer mit Alkoven und Bett im Hintergrunde (denn da das Restaurant überfüllt war, stand kein anderer Raum zur Verfügung); zwei Fenster, von denen aus man durch die Ulmen eine Aussicht auf den Fluß und das Ufer hatte; eine herrliche Augustsonne, deren Strahlen das Zimmer überflutheten; zwei Tische, auf dem einen ein stolzer Berg von Blumensträußen, Mannes- und Frauenhüten, auf dem andern ein lustiger Wirrwarr von Schüsseln, Tellern, Gläsern und Flaschen; wenig Ordnung auf diesem Tisch und einige Unordnung darunter: Dies war das Stadium, wo gegen halb fünf des Nachmittags unsere um fünf Uhr Morgens begonnene Idylle angelangt war. – Die Sonne neigte sich allmählig ihrem Untergange zu, und ebenso endlich auch der Appetit unserer jungen Freunde.
Die Champs-Elysées, vom Sonnenschein und von Menschenmengen durchwogt, waren voller Licht und Staub, der beiden Elemente des Ruhmes. Die marmornen Pferdestatuen von Marly, die zu wiehern scheinen, prangten in goldigem Glanze. Equipagen fuhren hin und her. Eine Schwadron prächtiger Gardes du Corps, mit den Hornisten voran ritt die Avenue de Neuilly herunter; auf der Kuppel der Tuilerien wehte, von der niedergehenden Sonne rosig gefärbt, die weiße Fahne. Die Place de la Concorde, die damals ihren alten Namen die Place Louis XV. wieder angenommen hatte, war mit frohen Spaziergängern überfüllt. Viele von ihnen trugen die silberne Lilie an dem moirierten weißen Bande, das 1817 noch nicht ganz aus den Knopflöchern verschwunden war. Mitten unter dem Publikum, das ihnen fleißig applaudirte, sah man kleine Mädchen, welche, die Hände zum Reigen verschlungen, ein damals beliebtes, zur Niederschmetterung der Anhänger Napoleons bestimmtes Lied sangen. »Gebt uns unsern Vater wieder!« lautete der Refrain.
Leute aus den Arbeitervierteln, von denen manche nach dem Beispiel des feineren Publikums das Abzeichen der Bourbonen, die Lilien, trugen, hatten sich gleichfalls hier eingefunden; sie ritten Karussel und stachen nach den Ringen; andere saßen vor den Schänken und zechten; manche – es waren Druckerlehrlinge – stolzierten mit Papiermützen auf dem Kopfe einher und waren seelensvergnügt. Alles athmete Frohsinn. Es war eine friedfertige Zeit, wo die Bourbonen sich in Sicherheit wiegen konnten, wo ein spezieller Bericht des Polizeipräfekten Anglès an den König über die Bevölkerung der Vorstädte mit folgenden Zeilen schl0ß: »Alles wohl erwogen, Majestät, ist von diesen Leuten nichts zu befürchten. Sie sind sorglos und indolent wie Katzen. Das gemeine Volk in den Provinzen ist unruhig, die Pariser nicht. Es sind alles Leute von kleiner Statur. Zwei von ihnen, auf einander gestellt, gehören dazu, um die Länge eines Grenadiers zu erreichen. Denn merkwürdiger Weise hat die Natur des pariser Volks seit einem halben Jahrhundert abgenommen. Kurz, die Pariser der Vorstädte sind ungefährliche, gute Kanaillen.«
Daß eine Katze zu einem Löwen werden kann, halten Polizeipräfekten nicht für möglich; das Volk von Paris hat aber dieses Wunder fertig gebracht. Uebrigens hatten auch die Republiken des Alterthums eine höhere Meinung von der Katze, als der Präfekt Anglès; sie war bei ihnen das Sinnbild der Freiheit und die Korinther ließen, gleichsam der ungeflügelten Minerva des Piraceus zum Trotze, auf ihrem Versammlungsplatze die kolossale broncene Statue einer Katze errichten. Von dem Pariser Volke hatte auch die naive Polizei der Restauration eine »zu vortheilhafte« Meinung. So gut, wie man gewöhnlich annimmt, ist diese Kanaille keineswegs. Der Pariser ist unter den Franzosen, was einst der Athener unter den andern Griechen war. Keiner kann träger und leichtsinniger sein. Keiner vergißt so leicht wie er; aber man lasse sich dadurch nicht täuschen; winkt ihm der Ruhm, so ist er der wildesten Energie fähig. Man gebe ihm eine Pieke, so stürmt er die Tuilerieen und stürzt das Königthum; ein Gewehr, so gewinnt er ruhmreiche Schlachten. Ein Napoleon sowohl, wie ein Danton verließen sich auf ihn. Ruft ihn das Vaterland, so wird er Soldat; ist die Freiheit bedroht, so baut er Barrikaden. Man sehe sich vor. Sein Zorn kann Stoff zu Epopöen liefern, sein Kittel sich in eine Chlamys verwandeln. Nehmt Euch in Acht. Aus der ersten besten Straße macht er einen caudinischen Engpaß. Der Vorstädter wird groß, wenn die Stunde schlägt; der Kleine steht auf, sein Blick wird furchtbar, sein Atem wird ein Sturm, der die Alpen umblasen kann. Dem Arbeiter der pariser Vorstädte verdankt es die Revolution, daß sie mittels der Armee Europa erobern kann. Seine Hauptfreude ist Gesang und findet man das Lied, das seiner Natur entspricht, so kann man Wunder sehen. So lange er nur die Carmagnole singt, kann er nur einen Ludwig XVI. stürzen; mit der Marseillaise befreit er die Welt.
Nach dieser Randbemerkung zu dem Bericht des Polizeipräfekten Anglès wollen wir zu unsern vier Pärchen zurückkehren. Das Diner also ging zu Ende.
VI. Wie man sich gegenseitig anbetet
Tisch- und Liebesgespräche sind so wenig greifbar wie Wolkendunst und Rauch.
Fameuil und Dahlia trällerten; Tholomyés trank; Sephine lachte; Fantine lächelte. Listolier amüsierte sich mit einer hölzernen Trompete, die er sich in Saint-Cloud zugelegt hatte; Favourite sah Blachevelle mit schmachtenden Blicken an und flötete:
»Blachevelle, ich bete dich an!«
Dies veranlagte Blachevelle zu der Frage:
Was würdest Du thun, Favourite, wenn ich aufhören würde dich zu lieben?«
»Was ich thun würde? Sage mir so etwas nicht einmal zum Spaß. Wenn Du aufhörtest mich zu lieben, würde ich dir nachstürzen, dich hauen, dich kratzen, dich mit Wasser begießen, dich arretieren lassen.«
Inniges geckenhaftes Vergnügen malte sich auf Blachevelles Antlitz ab. Favourite fuhr eifrig fort:
»Wirklich, auf die Wache ließe ich dich bringen! Das versichere ich dich, du infame Kanaille!«
Außer sich vor Wonne lehnte sich Blachevelle in seinem Stuhl zurück und schloß stolz die Augen.
Aber als Dahlia im allgemeinen Lärm Favourite die Frage zuflüsterte: »Bist Du wirklich so verschossen in deinen Blachevelle?« antwortete Fauvourite:
»Ich kann ihn nicht besehen. Er ist ein knickerig. Ich liebe einen kleinen, netten Menschen, der mir gegenüberwohnt Du kennst ihn wohl? Er beißt den Schauspieler heraus, und ich schwärme für die Schauspieler. Sobald er den Fuß ins Haus setzt, schreit seine Mutter »Ach Du mein Gott, nun ist's mit meiner Ruhe vorbei!« Jetzt wird er gleich wieder losbrüllen. Lieber Sohn, du sprengst mir noch mal den Kopf mit deinem Geschrei! Er geht nämlich stets auf den Boden, und so hoch hinauf, wie er irgend kann, und singt und deklamiert, daß man ihn unten hört. Und zwanzig Sous verdient er schon den Tag bei einem Rechtsanwalt, dessen Schikanen er abschreibt. Er ist der Sohn eines Kantors von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas. Ein netter Mensch, kann ich dir sagen. Ich hab's ihm so stark angethan, daß er einmal, als ich Kuchenteig knetete, zu mir gesagt hat: »Fräulein, machen Sie aus Ihren Handschuhen da – damit meinte er den Teig, der an meinen Fingern klebte, – machen Sie Strudel aus Ihren Handschuhen, dann esse ich Ihre Handschuhe.« So was Feines und Galantes kann bloß ein Künstler sagen. Solch ein netter Mensch! Ich bin auf dem besten Wege mich in den Kleinen zu vernarren. Aber zu Blachevelle sage ich doch, daß ich ihn anbete. Nicht wahr? Ich verstehe mich aufs Lügen?«
Hier hielt Favourite inne, seufzte und fuhr fort:
»Dahlia, mir ist trübselig zu Muthe. Den ganzen Sommer ist es in einem Regen СКАЧАТЬ