Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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Was unterdessen auf der Straße vorging, konnte sie bei ihrer Beschäftigung nicht sehen.
Ehe Sie aber noch die erste Strophe beendet hatte, war jemand herangekommen, und plötzlich hörte sie dicht in ihrer Nähe eine Stimme, die zu ihr sagte:
»Sie haben da zwei hübsche Kinder, Madame.«
»Der schönen, zarten Imogine,« sang die Mutter weiter, wendete sich aber sogleich um.
Einige Schritte vor ihr stand eine Frau, die ein Kind auf den Armen trug.
Außerdem schleppte sie sich noch mit einem großen Reisesack, der ziemlich schwer zu sein schien.
Das Kind dieser Frau, ein zwei bis dreijähriges Mädchen war eins der reizendsten Wesen, das man sich vorstellen konnte. Auch in Bezug auf den Putz konnte sie den Vergleich mit den andern Kleinen aushalten. Sie trug ein feines Linnenhäubchen mit Valenziemer Spitzchen, und hatte Bänder am Mieder. Da das Kleidchen in die Höhe gerutscht war, konnte man die weißen fleischigen und drallen Schenkel sehen. Ihre Gesichtsfarbe war rosig gesund und die Bäckchen zum Anbeißen. Die Augen, konnte man, da sie schlief, nicht sehen, aber es waren gewiß recht große Augen mit schönen Liedern.
Die Mutter hingegen sah ärmlich und kummervoll aus. Gekleidet war sie wie eine Arbeiterin, die im Begriff ist, wieder Bäuerin zu werden. Sie war jung, vielleicht auch schön, aber in diesem Fall beeinträchtigte die armselige Kleidung ihre körperlichen Vorzüge. Ihr Haar, von dem nur eine blonde Locke sichtbar war, schien sehr dicht und stark zu sein, allein der Gedanke mit diesem schönen Naturschmuck Staat machen zu wollen, mußte ihr wohl fernliegen, denn es verschwand fast ganz unter einer unkleidsamen, eng anliegenden, unter dem Kinn festgebundenen Nonnenhaube. Ob Jemand schöne Zähne hat, kann man entscheiden, wenn er lacht; aber die Fremde war nicht zur Heiterkeit aufgelegt. Im Gegentheil. Ihren Augen nach zu urtheilen mußte sie erst vor kurzem geweint haben. Auch war sie blaß, sah müde und krank aus. Sie hatte wohl ihr Kind selber gesäugt, denn darauf deutete die Art hin, wie sie das schlafende Kind anblickte. Ein großes blaues Taschentuch, ähnlich wie es bei Invaliden gebräuchlich ist, verhüllte in ungraziöser Weise ihre Taille. Ihre Hände waren von der Sonne braun gebrannt, mit Sommersprossen bedeckt. Der rechte Zeigefinger hart und zerstochen. Bekleidet war sie mit einem halblangen Mantel aus braunem flockigem Wollstoff, einem Leinwandkleid und groben Schuhen. Es war Fantine.
Sie war schwer wieder zu erkennen. Indessen wenn man sie genauer ansah, hatte ihre Schönheit sie noch nicht verlassen. Allerdings zog sich über ihre rechte Wange eine Falte, aus der Schwermuth und leise Ironie sprach. Ihre luftige Kleidung voller Lustigkeit und Munterkeit war dahin, verschwunden wie die Thautropfen, die an der Sonne wie Diamanten glänzen, wenn sie aber verdunstet sind, die dunkle Farbe der Aeste und Zweige zum Vorschein kommen lassen.
Seit dem »famosen Witz« waren zehn Monate verstrichen.
Was hatte sich seitdem zugetragen? Man kann es errathen.
Seit Tholomyès Flucht, nichts als Sorgen und Noth. Favourite, Sephine und Dahlia hatte Fantine alsbald aus den Augen verloren, denn nach Lösung des Bandes, das die Männer mit den jungen Mädchen zusammenhielt, waren auch diese sofort auseinander gegangen, und hätte man ihnen vierzehn Tage später gesagt, sie seien Freundinnen, so würden sie sich sehr gewundert haben. Fantine war also allein und auf sich angewiesen. Das Schlimmste aber war, daß sie jetzt die Liebe zur Arbeit eingebüßt und sich Vergnügungssucht angewöhnt hatte; abgesehen davon, daß sie ihre ehemaligen Arbeitgeber vernachlässigt und Verbindungen aufgegeben, die sich jetzt nicht mehr anknüpfen ließen. Kein Ausweg! Fantine konnte kaum lesen, und schreiben auch nur gerade ihren Namen. Sie ließ also von einem öffentlichen Schreiber einen Brief an Tholomyès aufsetzen, dann einen zweiten und einen dritten. Denn selbstredend erhielt sie keine Antwort. Eines Tages hörte sie, wie ein paar Frauen im Hinblick auf ihr Töchterchen sagten: »Dergleichen Kinder zählen nicht mit. Ueber dergleichen Bälge zuckt man die Achseln.« Da war ihr Tholomyès eingefallen, der beim Gedanken an ihr Kind jetzt die Achseln zuckte, und ihr Herz erfüllte Bitterkeit gegen diesen Menschen. Aber woher Hilfe schaffen? Sie wußte nicht, an wen sie sich wenden sollte. Sie hatte sich ja eines Fehltritts schuldig gemacht, aber ihr innerstes Wesens war sittsam und tugendhaft. Sie sagte sich, sie gehe dem grausigsten Elend entgegen und werde sittlich verkommen, sie müßte sich also mit aller Gewalt aufraffen. Da dachte sie an ihre Vaterstadt Montreuil-sur-Mer. Dort würde vielleicht Jemand sie kennen und ihr Arbeit verschaffen. Schon gut. Aber dann mußte sie ihren Fehltritt verhehlen, und diese Notwendigkeit legte ihr den Gedanken an eine andre Trennung nahe, die noch schmerzlicher sein würde, als die von Tholomyès. Es schnitt ihr durchs Herz aber sie gewann den schweren Entschluß über sich. Besaß sie doch in hohem Grade jene hartnäckige Tapferkeit, die der Kampf um das Dasein erheischt. Schon hatte sie die Selbstüberwindung gehabt allem Schmuck zu entsagen, und während sie sich in Leinwand kleidete, alle ihre Seide, Bänder, Spitzen dazu verwendet ihr Töchterchen hübsch herauszuputzen, denn diese – edlere – Art von Eitelkeit behielt sie noch. Sie verkaufte dann alles, was sie hatte, und bezahlte von dem Erlös, zweihundert Franken, ihre Schulden, so daß ihr schließlich nur noch achtzig Franken blieben. Nun wanderte sie, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, an einem schönen Frühlingsmorgen ihr Kind auf dem Rücken, aus Paris hinaus. Erbarmungswerter Anblick, den die Beiden darboten! Die Frau besaß auf der Welt nichts als ihr Kind, und das Kind nichts als seine Mutter. Fantine hatte ihr Kind selbst gestillt, und hatte damit ihre Brust angestrengt, so daß sie hüstelte.
Von Felix Tholomyès zu sprechen wird keine Veranlassung mehr vorliegen. Es genüge zu wissen, daß er zwanzig Jahre später, unter der Regierung Louis Philipps ein angesehener und reicher Rechtsanwalt in einer Provinzstadt, ein verständiger Wähler und sehr strenger Geschworener, dabei aber immer noch Lebemann war.
Um die Mitte des Tages war Fantine, nachdem sie für ein paar Sous eine Strecke gefahren war, in der Ruelle du Boulanger in Montfermeil angelangt.
Als sie hier vor der Herberge der Thénardiers vorbeikam, zogen die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrem Ungethüm von Schaukel so schön amüsirten, die Augen der armen Wanderin auf sich und sie blieb stehen, ihre Augen an der Freude der Kleinen zu weiden.
Es giebt Dinge, die mit der Gewalt eines Zaubers auf den Menschen wirken. Einen solchen Eindruck machten jetzt die beiden Kinder auf Fantine, deren Mutterherz bei dem reizenden Schauspiel in Entzücken gerieth.
Sie betrachtete mit innigster Rührung die kleinen Engel, die doch wohl in einem Paradiese leben mußten und glaubte über der Thür der Herberge ein von der Vorsehung geschriebenes: »Hier ist es!« zu lesen. Die kleinen Wesen hatten es augenscheinlich recht gut! Dies waren die Gefühle, die ihr Herz bewegten, als sie die Mutter der Kleinen beim Singen unterbrach und ihr zurief:
»Sie haben da zwei allerliebste Kinderchen! Die gefühllosesten Kreaturen werden weicher gestimmt, wenn man ihre Sprößlinge lobt,« Die Angeredete blickte auf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während sie auf der Schwelle sitzen blieb.
»Ich heiße Frau Thénardier. Diese Gastwirthschaft gehört uns«, sagte sie und trällerte ihr Lied halblaut weiter.
Frau Thénardier war rothhaarig, übermäßig fleischig, von eckiger Gestalt, kurz, ein echtes Soldatenweib in des Wortes ungraziösester Bedeutung. Dabei aber hatte sie ein zieriges Wesen, das sie einer ausgedehnten Romanlektüre verdankte. Sie war noch jung, höchstens dreißig Jahre alt. Hätte sie aufrecht gestanden, so wäre vielleicht bei dem Anblick ihrer kolossalen Statur, die in einer Jahrmarktsbude als Kuriosität Ehre eingelegt hätte, die Fremde entsetzt zurückgewichen und das, was wir jetzt berichten wollen, wäre unmöglich geworden. Von dem Umstande, ob in einem gegebenen Augenblick Jemand eine sitzende oder stehende Haltung einnimmt, kann aber ein Menschenschicksal abhängen.
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