Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
isbn:
Dabei küßte sie ihr Töchterchen voller Inbrunst, so daß diese aufwachte. Die Kleine machte ihre großen blauen Augen weit auf und sah sich um mit jenem Ernst, welcher der lichtvollen Unschuld dieser kleinen Wesen den schon dunkel gewordenen Tugenden der Erwachsenen gegenüber so schön ansteht. Ist es doch, als wüßten sie, daß sie Engel und wir Menschen sind! Dann fing die Kleine an zu lachen, zappelte sich kräftig los aus den Armen der Mutter, die sie zurückhalten wollte, und glitt auf die Erde herab. Mit einem Mal wurde sie ihrer Altersgenossinnen auf der Schaukel ansichtig und ließ zum Zeichen ihrer Bewunderung die Zunge aus dem weit geöffneten Mündchen heraushängen.
Mutter Thénardier band ihre Kinder los, nahm sie von der Schaukel herunter und sagte:
»So, nun spielt alle drei zusammen!«
In dem Alter ist man zutraulich, und es dauerte nicht lange, so scharrten die beiden kleinen Thénardiers und ihre neue höchst vergnügte Kameradin mit gewaltigem Eifer Löcher in die Erde.
Unterdessen setzen die beiden Mütter das angefangene Gespräch fort.
»Wie heißt Ihre Kleine?«
»Cosette.«
Der wirkliche Name war Euphrasia, aber Mutter hatte ihre Euphrasia in Cosette umgetauft, vermöge jenes hübschen sprachlichen Instinktes der Mütter und des Volkes, der aus Josefa Pepita und aus Françoise Sillette macht, Ableitungen, die den Theorieen der Etymologen entschieden zuwiderlaufen.
»Wie alt ist sie?«
»Sie wird bald drei Jahre alt.«
»Wie meine Aelteste.«
Währenddem war den kleinen Mädchen etwas Wichtiges passirt. Es war nämlich ein dicker Regenwurm aus der Erde hervorkrochen, und sie betrachteten ihn voller Bangigkeit und Verwundrung.
Die drei Köpfchen dicht zusammengedrängt, bildeten sie eine allerliebste Gruppe.
»Wie rasch die Kinder Bekanntschaft mit einander machen!« rief Mutter Thénardier. Sollte man nicht meinen, man hatte drei Schwestern vor sich?«
Diese Aeußrung war ein Funke, auf den die andre Mutter gewartet zu haben schien. Sie ergriff die Hand der Thénardier, sah ihr ins Auge und fragte:
»Wollen Sie mein Kind eine Zeit lang bei Sich behalten?«
Die Thénardier machte eine Gebärde des Erstaunens, die weder Ja noch Nein bedeutete.
Cosettens Mutter fuhr fort:
»Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Ich würde keine Arbeit bekommen, denn in meiner Heimat sind sie lächerlich in dieser Hinsicht. Der liebe Gott hat mich zu Ihnen hergeführt. Als ich Ihre allerliebsten, so reinlich gehaltnen und vergnügten Kinderchen gesehen habe, da ist mir ganz eigen zu Muthe geworden. Ich habe gedacht, das muß eine gute Mutter sein. Sie haben Recht: Die drei passen zu einander, als wenn's Schwestern wären. Außerdem bleibe ich auch nicht lange weg. Wollen Sie mir also bis dahin meine Kleine hier behalten?«
»Man müßte sich die Sache überlegen,« meinte die Thénardier.
»Ich würde sechs Franken den Monat geben.«
Hier ließ sich aus dem Hause eine Männerstimme vernehmen.
»Nicht unter sieben Franken. Und sechs Monate pränumerando.«
Sechs mal sieben macht zweiundvierzig, berechnete die Thénardier.
»Gut«, sagte die Fremde.
»Und außerdem fünfzehn Franken für die ersten Auslagen.«
»Im Ganzen siebenundfünfzig Franken, fuhr die Thénardier fort und sang ihre liebliche Romanze weiter:
Es muß sein, so sprach der Krieger.«
»Die sollen Sie haben,« sagte Fantine. Ich habe achtzig Franken. Da bleibt mir noch Geld genug übrig, um nach meinem Ort zu reisen, – wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich dort ein wenig Geld verdient habe, komme ich wieder und hole mir mein Herzenskleinod ab.«
Aus dem Hause rief es wieder:
»Die kleine hat doch eine Ausstattung?«
»Mein Mann!« erklärte die Thénardier.
»Nun natürlich hat sie eine Ausstattung. Ich habe mir gleich gedacht, daß es ihr Mann war. Sogar eine sehr statiöse, großartige! Alles dutzendweise, und Seidenkleidchen, wie das feinste Fräulein sie nicht besser haben kann. Ich habe Alles bei mir, in dem Reisesack.«
»Das müssen Sie mitgeben!« rief der Mann wieder.
»Nun natürlich bekommt sie's mit. Das wäre ja noch schöner, wenn ich meine Tochter ohne Kleider ließe!«
Jetzt trat der Hausherr aus dem Hintergrunde hervor.
»Ich bin's zufrieden.«
Der Handel wurde also abgeschlossen. Fantine übernachtete in der Herberge, zahlte das Geld aus und machte sich ohne ihr Kind und mit dem stark zusammengeschrumpften Reisesack am nächsten Morgen wieder auf den Weg, indem sie darauf rechnete, bald wieder zurückkommen zu können. Eine solche Abreise läßt sich ruhigen Herzens beschließen, aber ist der Augenblick gekommen, so bringt sie Einen an den Rand der Verzweiflung.
Eine Nachbarin der Thénardier begegnete Fantinen, als sie ohne ihr Kind von dannen ging, und erzählte ihnen:
»Ich habe so eben auf der Straße eine Frau weinen sehen, daß es herzzerreißend war.«
Als Cosettens Mutter fort war, sagte Thénardier zu seiner Frau:
»Nun kann ich die hundert und zehn Franken bezahlen die morgen fällig werden. Es fehlten mir noch fünfzig Franken. Der Wechsel wäre mir faktisch protestirt worden, und wir hätten den Exekutor auf den Hals gekriegt. Die kleine Maus hast Du gut geködert mit deinen Jöhren.«
»Ohne mir was dabei zu denken,« entgegnete die Frau.
II. Erste Skizze zweier verdächtiger Gestalten
Es war ein armseliges Mäuschen, das sie da gefangen hatten! aber eine Katze freut sich auch über einen magern Fang.
Was waren die Thénardiers für Leute?
Entwerfen wir in kurzen Umrissen ein Bild von ihnen. Wir werden es in der Folge des Näheren ausführen.
Diese Wesen gehörten zu jener Zwitterart von Menschen, die aus ungebildeten Emporkömmlingen und heruntergekommenen gescheidten Leuten zusammengesetzt ist, zwischen dem sogenannten Mittelstande und СКАЧАТЬ