Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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»Ihr habt das Alte zerstört. Das mag sein Gutes gehabt haben, aber ich habe kein Zutrauen zu einer Zerstörung, die der Zorn angestiftet hat.«
»Das Recht darf auch einmal in Zorn gerathen, denn der Zorn des Rechtes ist ein Element des Fortschritts. Gleichviel, man sage, was man wolle, seit dem Erscheinen Christi hat das Menschengeschlecht keinen so gewaltigen Schritt vorwärts gethan, als durch die große französische Revolution. Sie hat alle sozialen Uebelstände klar gelegt. Sie hat die Gemüther sanfter gestimmt; sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt; sie hat Ströme höherer Gesittung über alle Lande ausgegossen. Sie ist voller Güte gewesen. Die französische Revolution ist die Weihe der Menschheit.«
»Wirklich? Aber 1793?«
Der Mann des Convents richtete sich in seinem Stuhle mit erhabener Feierlichkeit auf und rief, so laut ein Sterbender irgend sprechen kann:
»Aha, da haben wir's! Ich wußte, daß Sie mir mit 1793 kommen würden. Nun, es war einmal eine Wolke, die fünfzehn Hundert Jahre gewartet hat, ehe sie geplatzt ist, und nun klagen Sie den Blitz an.«
Der Bischof fühlte vielleicht, ohne daß er sich dessen klar wurde, daß seine Ueberzeugungen etwas erschüttert waren. Aber er wehrte sich noch:
»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Art von Gerechtigkeit ist. Der Blitz soll sich nicht irren.« Und indem er den Mann des Convents fest ansah, fuhr er fort: »Z. B. Ludwig XVII.?«
Sein Gegner streckte die Hand aus und faßte ihn beim Arm.
»Also Ludwig XVII.? Sehr wohl. Worüber beklagen Sie sich? Daß ein unschuldiges Kind zu Tode gemartet worden ist? Gut, das beklage ich auch. Daß ein Königskind gemartert worden ist, das bitte ich mir erst überlegen zu dürfen. Für mich ist der Bruder Cartouche's ein unschuldiges Kind, das auf dem Grève-Platze unter den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, – blos weil es der Bruder Cartouche's war, eben so sehr ein Gegenstand des Mitleids, als der Enkel Ludwigs XV., das unschuldige Kind, das in dem Thurm des Temple zu Tode gemartert wurde, blos weil es der Enkel Ludwigs XV. war.«
»Herr, ich verbitte mir solche Zusammenstellungen.«
»Wem thut mein Vergleich Unrecht: Cartouche? Ludwig XV.?«
Es trat eine Pause ein. Der Bischof bedauerte fast, gekommen zu sein und doch fühlte er sich seltsam ergriffen.
Der Sterbende fuhr fort:
»Ja, ja, Herr Priester, Sie lieben die Derbheiten der Wahrheit nicht; Christus aber liebte sie doch. Er nahm eine Geißel und trieb das Gesindel zum Tempel hinaus. Diese Geißel sagte unangenehme Wahrheiten. Als er sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen, machte er keine Unterschiede. Er hätte keinen Anstand genommen, den Sohn des Barabbas und den Sohn des Herodes zusammen einzuladen. Ich meine, die Unschuld ist an sich eine Krone. Sie bedarf keiner hohen Titel und ist in Lumpen ebenso achtunggebietend, wie im Königsgewande.«
»Sehr wahr!« flüsterte der Bischof.
»Bleiben wir bei dem Thema, fuhr G. fort. Sie haben von Ludwig XVII. gesprochen. Sehen wir zu, ob wir uns richtig verstehen. Beklagen wir alle unschuldigen kleinen Märtyrer, die geringen ebenso sehr wie die vornehmen? Gut, das will ich thun. Aber dann müssen wir auch weiter hinaufgehen als 1793. Ich will mit Ihnen über die Kinder der Könige weinen, wenn Sie mit mir die Kinder des Volkes beweinen.«
»Sie sind alle des Mitleids werth«, bestätigte der Bischof.
»In gleicher Weise«, rief G., »und wenn eine Wagschale sich senken soll, so sei es die des Volkes. Seine Leiden sind die älteren.«
Wieder trat eine Pause ein. G. brach zuerst das Stillschweigen. Er stützte sich auf den einen Ellbogen, griff mit dem Daumen und Zeigefinger an die Wange, wie man unbewußt zu thun pflegt, wenn man einen Schuldigen verhört und zur Rede stellt, sah den Bischof strenge an und begann dann mit Heftigkeit:
»Ja, Herr Bischof, das Volk leidet schon lange. Aber noch Eins. Warum kommen Sie zu mir und reden über Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seitdem ich in diese Gegend gekommen bin, habe ich in dieser Einöde gewohnt, allein in meiner Hütte, ohne je auszugehen, ohne Verkehr mit irgend Jemand, abgesehen von dem Hirtenjungen. Ihr Name ist allerdings zu mir gedrungen und er klang nicht schlecht, muß ich sagen; aber das will nicht viel sagen; die Klugköpfe haben so viele Mittel und Wege, dem guten Volk etwas vorzureden. Und nun ich daran denke: Ich habe Ihre Equipage nicht heranfahren hören. Sie haben sie gewiß hinter dem Gehölz am Kreuzweg halten lassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie haben mir gesagt, Sie wären ein Bischof, aber das klärt mich nicht auf über Ihr moralisches Ich. Also, ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, d. h. ein Kirchenfürst, Einer von Denen, die Wappen, Renten, große Präbenden haben, – das Bisthum Digne bringt 15,000 Franken festes Gehalt und 10,000 Franken Nebeneinkünfte, macht 25,000 Franken pro Jahr. – Sie sind Einer von Denen, die Bedienten und Köche haben, die sich's wohl sein lassen, die des Freitags Wasserhühner essen, in Palästen wohnen und im Namen Jesu Christi, der barfuß ging, in üppigen Galakutschen, mit Lakaien vorn und hinten, kutschiren. Alle diese Herrlichkeiten haben Sic und genießen Sie, aber das klärt mich nicht auf über Ihren inneren und wesentlichen Werth, den ich doch kennen muß; denn Sie sind doch offenbar mit der Absicht gekommen, mir Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?« Der Bischof senkte den Kopf und antwortete: » Vermis sum!«
»Ein Erdenwurm in einer Equipage!« murrte das Conventsmitglied. Jetzt war er hochfahrend und der Bischof bescheiden.
Letzterer hub mit sanfter Stimme wieder an:
»Sehr wohl. Aber erklären Sie mir doch, inwiefern meine Equipage da hinter den Bäumen, inwiefern meine üppige Tafel und die Wasserhühner, die ich des Freitags verspeise, inwiefern meine 25.000 Franken jährlich, inwiefern mein Palast und meine Lakaien beweisen, daß das Mitleid keine Tugend, daß Milde keine Pflicht ist und daß die Schreckensmänner des Jahres 1793 nicht unbarmherzig gewesen sind.«
Der Mann des Convents fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen trüben Gedanken verscheuchen.
»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe ein Unrecht begangen. Sie sind in meinem Hause, Sie sind mein Gast und ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sind Sie mit meinen Ansichten nicht einverstanden, so ziemt es sich, daß ich mich damit begnüge, Ihre Gegengründe zu widerlegen. Ihr Reichthum und Ihr Glück geben mir Waffen an die Hand, Sie zu bekämpfen, aber der Anstand erheischt, daß ich mich solcher Waffen nicht bediene. Ich entsage diesem Vortheil für die Zukunft.«
»Ich danke Ihnen«, antwortete der Bischof.
»Nun die Erklärung, die Sie von mir verlangten. Wo waren wir doch stehen geblieben? Sie behaupteten ja wohl, 1793 seien wir unbarmherzig gewesen?«
»Gewiß. Denken Sie an Marat, der beim Anblick der Guillotine in die Hände klatschte!«
»Denken Sie an Bossuet, der die Protestantenhetzen mit Tedeums feierte!«
Die Antwort war schroff, aber sie drang dem Bischof bis ins Innerste wie eine Degenspitze. Er fuhr zusammen, fand keine Erwiderung, aber es verdroß ihn, Bossuet in dieser Weise erwähnen zu hören. Auch СКАЧАТЬ