Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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»Meinetwegen können wir noch, so gut es geht, ein paar Worte plaudern. Außer der Revolution, die als ein Ganzes betrachtet, eine große Kundgebung des Menschentums war, ist 1793 auch eine Erwiderung. Sie schmähen die erbarmungslose Schreckenszeit, wie war denn aber die ganze Königszeit? Carrier ist ein Bandit; aber welche Benennung verdient Montrevel? Fouquier-Tinville war ein erbärmlicher Mensch, aber was meinen Sie zu Lamoignon-Bâville? Mailland beging Grausamkeiten, aber wie urtheilen Sie über Saulx-Tavannes, wenn ich fragen darf? Vater Duhêne predigte einen blutdürstigen Fanatismus, aber welches Urtheil erlauben Sie mir über Vater Letellier? Jourdan-Coupe-Tête ist ein Ungeheuer, aber doch noch kein so scheußliches wie der Marquis von Louvois. Herr Bischof, ich beklage das Schicksal der Erzherzogin und Königin Marie-Antoinette, aber auch jene arme Hugenottin thut mir leid, die 1685, unter der Regierung Ludwigs des Großen, nackt bis auf die Hüften an einen Pfahl gebunden wurde und die Wahl hatte, ob sie ihren Glauben abschwören oder ihr Kind, das dicht vor ihr nach der Mutterbrust schrie und zappelte, dem Tode preisgeben wollte. Was meinen Sie zu dieser einer Mutter angepaßten Tantalusqual? Herr Bischof, merken Sie sich, die Revolution hatte ihre Berechtigungsgründe. Was man damals aus gerechtem Zorn gefehlt hat, wird von der Zukunft entschuldigt werden. Ist doch ihr Endergebniß eine allgemeine Besserung der Zustände. Sie hat derb zugeschlagen, aber sie hat sich als eine Wohlthat für die Menschheit erwiesen. Aber ich halte ein, die Vortheile in unserm Meinungskampfe sind zu groß auf meiner Seite und übrigens fühle ich auch, daß der Tod näher kommt.«
Und die Augen von dem Bischof abgewendet, beschloß er ruhevoll seine Rede mit folgenden Worten:
»Ja, die Zornesaufwallungen des Fortschritts heißen Revolutionen. Sind sie vorüber, so wird man inne, daß die Menschheit hart angefaßt worden ist, aber, daß sie einen Schritt weiter gekommen ist.«
Er ahnte nicht, daß er eine nach der andern alle Verschanzungen erobert hatte, hinter denen der Bischof sich gegen seine Angriffe vertheidigte. Eine indessen blieb noch übrig, von der aus sein Widersacher seine letzte Waffe gegen ihn entsandte:
»Der Fortschritt,« begann er wieder mit seiner anfänglichen Heftigkeit, »soll an Gott glauben. Das Gute kann keinen unheiligen Diener haben. Ein Gottesleugner eignet sich schlecht zum Führer der Menschheit.
Der ehemalige Volksvertreter antwortete ihm nicht. Seinen Leib durchbebte ein Schauer. Aus seinem Auge quoll eine schwere Thräne die bleiche Wange hinab, und leise, den Blick in die Tiefen des Himmels versenkt, stammelte er vor sich hin:
»O Du! Ideal, Du allein bist!«
Der Bischof fühlte, in seinem Innern eine unbeschreibliche Erschütterung.
Nach einer Pause hob der Greis einen Finger gen Himmel und sagte:
»Das Unendliche ist, dort ist es. Hätte das Unendliche kein Ich, so hätte es an dem Ich eine Beschränkung, es wäre dann nicht unendlich; anders ausgedrückt, es wäre nicht. Es ist aber. Also hat es ein Ich. Dieses Ich des Unendlichen ist Gott.«
Der Sterbende hatte die letzten Worte mit lauter Stimme gesprochen, von den Schauern der Verzückung durchbebt, als schaue er ein höheres Wesen. Als er seine Rede beendet hatte, fielen ihm die Augen zu. Die Anstrengung hatte seine Kräfte erschöpft. Augenscheinlich hatte er in einer Minute die Lebenskraft verbraucht, die sonst noch für einige Stunden gereicht hätte. Was er soeben gesagt, hatte ihn dem nahe gebracht, der in dem Tode ist. Sein letzter Augenblick kam heran.
Der Bischof begriff dies, die Zeit drängte, als Priester war er doch gekommen. Die ursprüngliche Abneigung war allmählich in das entgegengesetzte Extrem, in die tiefste Rührung übergegangen; er blickte auf die geschlossenen Augen, die eiskalte runzlige Hand des Sterbenden und beugte sich zu ihm nieder:
»Dies ist die Stunde Gottes. Nicht wahr, es wäre bedauerlich, wenn wir umsonst zusammengekommen wären?«
Der Sterbende schlug die Augen auf. Auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck von würdevollem Ernst, aber mit einem Anflug von Mißmuth.
»Herr Bischof,« sagte er und seine Worte kamen langsam hervor, wohl mehr vom Gefühl seiner Würde getragen, als weil seine Kräfte ihn verließen, »mein ganzes Leben war dem Studium und der Betrachtung geweiht. Ich war sechzig Jahre alt, als mein Vaterland mich rief und mir befahl, mich mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Ich gehorchte. Es bestanden Mißbräuche, ich habe sie bekämpft; Unterdrückung, ich habe sie beseitigt; Rechte und Grundsätze, ich habe mich ihrer angenommen. Feindliche Armeen drangen in Frankreich ein, ich wagte mein Leben um es zu vertheidigen. Ich war nicht reich und bin arm geblieben. Ich war einer der Herren des Staates, die Keller des Schatzes waren mit Gold und Silber erfüllt, so daß die Mauern gestützt werden mußten, – ich speiste in der Rue de l'Arbre-Sec für zweiundzwanzig Sous. Ich habe die Unterdrückten befreit und den Unglücklichen geholfen. Ich habe Altartücher zerrissen, aber nur um die Wunden des Vaterlands zu verbinden. Ich habe immer den Drang des Menschengeschlechts nach dem Lichte unterstützt und bisweilen mich dem Fortschritt entgegengestemmt, wenn er kein Erbarmen hatte. Ich habe gelegentlich meine Feinde, Euch Priester, beschützt. Da ist zu Petegsem in Flandern, an demselben Ort, wo die merowingischen Könige ihren Winterpalast hatten, ein Urbanistinnenkloster, die Abtei der heiligen Klara, die ich 1793 gerettet habe. Ich that meine Pflicht nach Maßgabe meiner Kräfte und so viel Gutes, wie ich konnte. Nachher bin ich verbannt, gehetzt, verfolgt, drangsalirt, verleumdet, verhöhnt, verflucht, proskribirt worden. Seit Jahrzehnten sehe ich, daß viele Leute mit Verachtung auf mich herabsehen, die arme unwissende Menge sieht auf meinem Gesicht Merkzeichen künftiger Verdammniß und ich ertrage, ohne zu hassen die Einsamkeit eines allgemein Gehaßten. Jetzt bin ich sechsundachtzig Jahre alt und im Begriff zu sterben. Was wollen Sie nun von mir!«
»Ihren Segen,« bat der Bischof und kniete nieder.
Als er den Kopf wieder aufrichtete, hatte das Gesicht des ehemaligen Conventsmitgliedes einen erhabenen Ausdruck angenommen. Er war verschieden. Der Bischof ging nach Hause, tief in Gedanken versunken und brachte die ganze Nacht im Gebet zu. Am nächsten Tage versuchten einige neugierigen Leutchen ihn über das Conventsmitglied G. auszufragen, aber statt aller Antwort zeigte er nach dem Himmel. Von derselben Zeit an bezeigte er den kleinen Leuten und den Unglücklichen noch einmal so viel Sanftmuth und Mildthätigkeit.
Jede Anspielung auf den »alten Halunken« den G. versetzte ihn in eigentümlich tiefes Nachdenken. Niemand weiß zu sagen, ob nicht die Begegnung mit einem weisen und edlen Manne von anderer Sinnesart, als der seinigen, ihn in seinem Streben nach Vollkommenheit bestärkte.
Natürlich gab dieser »Seelsorgerbesuch« Anlaß zu allerlei Gerede:
»Gehört denn ein Bischof an das Sterbebette eines solchen Menschen hin? Augenscheinlich stand eine Bekehrung ja doch nicht zu erwarten. Die Revolutionäre sind insgesammt rückfällig. Warum ist er also zu ihm gegangen? Was hatte er bei ihm zu suchen? Ist er denn so neugierig, daß er durchaus einmal dabei sein mußte, wenn der Teufel eine Seele holt?«
Eines Tages schoß eine alte Schachtel, eine von jenen, die ihre Ungezogenheit für Witz halten, folgende Bosheit auf ihn ab:
»Alle Welt ist neugierig, wann Ew. Bischöfliche Gnaden die rothe Mütze bekommen werden.«
»Oh, oh,« versetzte er, »das ist eine schlimme Farbe. Glücklicherweise achten Diejenigen sie, die sie an einer Mütze hassen, desto mehr an einem Hute.«
XI. Eine Einschränkung
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