Название: Les Misérables / Die Elenden
Автор: Victor Hugo
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754173206
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In neun Jahren war unser Bischof dank seiner frommen Mildthätigkeit und seinem sanftmüthigen Wesen in der Stadt Digne ein Gegenstand inniger, kindlicher Verehrung geworden. Sogar sein Verhalten gegen Napoleon verzieh das gute schwache Volk, das seinen Kaiser vergötterte, aber andererseits auch seinen Bischof liebte.
XII. Warum der Bischoff allein stand
Ein Bischof ist fast immer von einem Schwarm junger Geistlicher umdrängt, wie ein General von jungen Offizieren. Hat doch jedes Fach seine Streber, die sich um die am Ziel Angelangten schaaren. Kein Mächtiger, der nicht sein Gefolge; kein Glücklicher, der nicht seinen Hof hätte. Alle, die sich eine glänzende Zukunft schaffen wollen, gravitieren um eine glänzende Gegenwart. Jeder einigermaßen einflußreiche Bischof hat in seiner Nähe einen Trupp Seminaristen, die um ihn patrouilliren und darüber wachen, daß die Huld Sr. Gnaden keinen Andern, als ihnen zu Theil werde. Einem Bischof gefallen, verleiht die Anwartschaft auf das Unterdiakonat. Man will emporkommen; und eine fette Pfründe ist eine schöne Sache.
Wie unter den Beamten des Staates, so giebt es auch unter denen der Kirche, unter den Bischöfen solche, die über einen größeren Einfluß zu verfügen haben, als ihre Kollegen, diese Herren sind reich, gewandt, bei Hofe und in der höhern Gesellschaft gern gesehen, verstehen wohl zu Gott zu beten, aber auch die Großen dieser Welt zu bitten, die Vertretern ganzer Diöcesen nicht gern etwas abschlagen. Solche Bischöfe sind gewissermaßen Bindestriche zwischen der Kirche und der Diplomatie, mehr Welt- als Kirchenfürsten. Wohl Denen, die in ihrer Nähe weilen dürfen! Einflußreich wie sie sind, lassen sie auf ihre Günstlinge, auf all die jungen Priester, die sich bei ihnen einzuschmeicheln verstehen, einträgliche Pfarreien, Archidiakonate, Almosenämter und andere üppige Stellen und Stipendien niederregnen und ebnen für sie den Anfang des Pfades, der zur Bischofswürde führt. Indem sie selber vorrücken, fördern sie auch ihre Trabanten, wie eine Sonne mit ihren Planeten durch das Weltall vorwärts, immer vorwärts wandert. Das Licht, das sie von sich strahlen, beleuchtet ihr Gefolge im Verhältnis zu seiner Stärke: Je großer die Diöcese des Gebieters, desto einträglicher fällt die Pfarre des bevorzugten Dieners aus. Und nun erst Rom! Nimmt dich ein Bischof, der so gescheidt ist, sich zum Erzbischofsthron emporzuschwingen, oder ein Erzbischof, der es bis zum Kardinal gebracht, nach Rom als Conclavisten mit, so wird man in die Rota gewählt und bekommt das Pallium, wird Kammerherr und heißt »Monsignore«. Wer erst Se. Bischöfliche Gnaden heißt, steigt bald zur »Eminenz« empor, und zwischen Sr. Eminenz und Sr. Heiligkeit liegt auch nur eine Abstimmung. Kurz, jedes Priesterkäppchen kann gegen die Tiara eingetauscht werden. Der Priester ist heutzutage der Einzige, der regelrecht König werden kann, und was für ein König! Der oberste von allen Königen. Welch eine Pflanzschule von Hoffnungen ist daher auch ein Priesterseminar! Wieviel schüchterne Chorknaben, wieviel junge Abbés tragen auf ihrem Kopfe den berühmten Topf Milch des Märchens, den sie allmählich in Gedanken gegen immer theurere Waaren eintauschen! Wie leicht giebt sich der Ehrgeiz, – oft indem er in seliger Selbstbetrachtung sich zuerst täuscht – für edle Begeisterung aus!
Se. Gnaden Herr Bienvenu wurde wegen seiner Bescheidenheit, Armuth, Originalität nicht zu den Magnaten der Kirche gezählt. Das bekundete der Umstand, daß es in seiner Umgebung an jungen Priestern fehlte. Er hatte, wie oben erwähnt, in Paris mißfallen. Niemandem fiel es ein, diesen Alten als Edelreis zu benutzen, um damit den Baum seines Glückes zu occuliren. Niemand redete sich ein, daß unter solch einem Schatten das Pflänzlein des Ehrgeizes gedeihen könne. Seine Kanoniker und Großvikare waren gute, simple Leute wie er, denen die Diöcese keinen Ausweg, auf das Kardinalat bot, die am Ende ihres Weges angelangt waren, aber nicht wie er, ein schönes Ziel erreicht hatten. Daß der Bischof Bienvenu Niemand auf einen grünen Zweig bringe, war auch allgemein bekannt, und die von ihm geweihten jungen Priester verschafften sich deshalb, sobald sie das Seminar verlassen hatten, Empfehlungen an den Erzbischof von Aix oder Auch, worauf sie alsbald aus seinem Gesichtskreis verschwanden. Ein Heiliger, der an chronischer Selbstverleugnung leidet, ist ein gefährlicher Nachbar. Wie leicht steckt er Einen an! Er inficirt Einen mit einer unheilbaren Armuth, einer Rückensteife, die beim Vorwärtskommen sehr hinderlich werden kann. Deshalb wurde denn auch unser Bischof allgemein gemieden. Wir leben in einer argen Zeit. »Dränge dich empor!« heißt die Lehre, die sie uns auf Schritt und Tritt zuschreit.
Beiläufig gesagt, der Erfolg ist ein gräuliches Ding. Seine Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die große Menge hat ein glücklicher Mensch dasselbe Profil wie ein genialer. Daher ist es auch dem Erfolge, dem Zwillingsbruder des Talents gelungen, die Geschichte hinter das Licht zuführen, wogegen nur Juvenal und Tacitus zu protestiren gewagt haben. Zu unsrer Zeit ist eine beinah offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten, trägt seine Livree und hantirt in seinem Vorzimmer. Ihre Theorie lautet: Sorge dafür, daß Du Glück hast. Bist Du glücklich, so ist das ein Beweis, daß Du Tüchtigkeit besitzest. Gewinne daß große Loos, so giltst du alsbald für einen gescheidten Mann. Wer triumphirt, wird geachtet. Wer »Schwein« hat, der hat Alles. Hast Du Erfolg, so bist Du ein großer Mann. Abgesehen von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen in einem Jahrhundert, ist die Bewunderung der Zeitgenossen eine kurzsichtige. Was nur obenhin leicht vergoldet ist, hält sie für massives Edelmetall. Der erste Beste ist der Beste, wenn er nur der Glücklichste ist. Der gemeine Haufe ist ein Narciß, der sich selbst bewundert und das Gemeine lobt. Jene großartige Tüchtigkeit, kraft deren Einer ein Moses, Aeschylus, Dante, Michel-Angelo, oder Napoleon wird, spricht die Menge ohne Weiteres Jedem zu, der in irgend einem Fache sein Ziel erreicht. Schwingt sich ein Notar zum Volksvertreter empor, schreibt ein Pseudo-Corneille einen »Tiridates«, legt sich ein Eunuch einen Harem zu, gewinnt ein unfähiger General durch einen Zufall eine Entscheidungsschlacht, liefert ein Apotheker einem Armeekorps Pappsohlen und erschwindelt er damit ein jährliches Einkommen von viermalhunderttausend Franken, legt sich ein Hausirer auf den Wucher und verdient er damit sieben oder acht Millionen, näselt ein Prediger so erbaulich, daß er höhern Ortes eines Bischofsthrons für würdig erachtet wird, ist ein Intendant, wenn er seinen Dienst quittirt, so reich, daß er Finanzminister werden kann, so nennen die Menschen das Genie, und verwechseln so zu sagen die Sterne, die Entenfüße in weichem Erdreich hinterlassen, mit den Sternen, die am Himmel prangen.
XIII. Sein Glaubensbekenntiß
Zu untersuchen, ob der Bischof von Digne auch den von der Kirche vorgeschriebnen Glauben besaß, kommt uns nicht zu. Einem so hochsinnigen Manne gegenüber ist ein andres Gefühl, als das der Hochachtung nicht am Platze. Dem Gerechten soll man auf sein Wort glauben. Uebrigens geben wir zu, daß alle Schönheiten menschlicher Vortrefflichkeit auch innerhalb eines von dem unsrigen verschiednen Glaubens die herrlichsten Blüthen entfalten können.
Was er von diesem Dogma und jenem Mysterium hielt? Dergleichen Geheimnisse des innern Bewußtseins kennt nur das Grab, in dem die Seelen ohne Hülle sind. So viel ist sicher, nie lösten sich für ihn Glaubensschwierigkeiten in Heuchelei auf. Der Fäulniß ist der Diamant nicht fähig. Er glaubte, so gut er konnte. »Ich glaube an den Vater!« rief er oft aus und schöpfte im Uebrigen aus den Werken der Liebesthätigkeit dasjenige Quantum von Befriedigung, das dem Gewissen genügt und uns die Ueberzeugung gewährt, daß Gott auch mit uns zufrieden ist.
Bemerken müssen wir wohl, daß der Bischof so zu sagen, abgesehen von seinem Glauben, und über seinen Glauben hinaus, ein Uebermaß von Liebe hatte. Dies war seine verwundbare Stelle, quia multum amavit, diejenige, auf die von den »gesetzten«, den »anständigen«, den »vernünftigen«, Leuten hingewiesen wurde, – so lauten ja die Lieblingsphrasen, die der Egoismus einer pedantischen Philosophie entlehnt. Was war jenes Uebermaß von Liebe? Ein heitres Wohlwollen, das nicht blos die Menschen umfaßte, sondern sich auch gelegentlich auf Dinge erstreckte. Ihm war nichts zu gering. Er war nachsichtsvoll gegen Gottes Geschöpfe. СКАЧАТЬ