Название: Textlinguistik
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823301066
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Ähnlich wie bei der Infragestellung des Satzes als größter linguistisch zu beschreibender Einheit hat man zunächst versucht, diese Frage zu verneinen. Dies geschah in der Befürchtung vor einer fortschreitenden und nicht absehbaren Erweiterung der Linguistik und ist eine Folge davon, dass wissenschaftliche Schulen ihre vertrauten Gegenstandsbestimmungen ungern gefährdet sehen. Jedoch wurde die Frage nach dem Kontext von Texten lauter. Einerseits hat man in Reaktion auf den Poststrukturalismus, insbesondere auf den in den 1960er-Jahren geprägten Begriff der IntertextualitätIntertextualität (Kristeva 1969, siehe auch Kap. 7) erkannt, dass Texte häufig auf andere Texte verweisen. Dieser Verweis erfolgt nicht nur durch Zitate, sondern auch da, wo man sich auf Wörter, Argumente, Meinungen anderer Texte beruft oder andere Texte auch nur Anlass der Textproduktion sind. In all diesen Fällen können wir von einer so genannten Intertextualität ausgehen: Die Existenz des einzelnen Textes – des so genannten singulären Textes − verdankt sich also der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Bezugnahme auf andere Texte. Man hat außerdem erkannt, dass in singulären Texten häufig das zu finden ist, was in einer ganzen Gruppe anderer Texte auch belegt ist. Die Auswirkungen des Versailler Vertrags auf die deutsche Politik der 1920er- und 1930er-Jahre ist nicht nur in einem Text thematisiert, sondern in einer kaum zu übersehenden Zahl von Texten. Innerhalb dieser Texte kann man Gruppierungen vornehmen, etwa nach inhaltlichen oder zeitlichen Gesichtspunkten. Man sieht dann, dass ein einzelner Text, etwa ein Zeitungsartikel zum Thema „Versailler Vertrag“ aus dem Jahr 1933, keineswegs so vereinzelt ist, wie man das zunächst annehmen könnte. In einem solchen Text finden sich sprachliche Formen und Funktionen, die mehr oder weniger mit anderen Texten übereinstimmen. Der singuläre Text ist also Konstituente eines größeren Kontextes. Dieser Kontext wird DISKURS genannt. In Ergänzung des vereinfachten hierarchischen Konstituentenmodells kann also eine Erweiterung vorgenommen werden:
[ Diskurs [ Text [Satz [ Wort [ Morphem [ Phonem ] ] ] ] ] ]
Auch wenn mit dieser Formalisierung die Einbettung des Textes in die Konstituentenstruktur des Sprachsystems erkennbar wird, ist der damit dargestellte Diskursbegriff noch nicht hinreichend bestimmt. Wie bereits ein Blick in allgemeinsprachige Wörterbücher zeigt, ist die Bedeutung des Substantivs Diskurs komplex, was erst recht gilt, wenn wir fachwissenschaftliche Bedeutungsdimensionen hinzudenken. Selbst wenn wir uns auf den linguistischen Gebrauch von Diskurs beschränken, müssen wir von einer Mehrdeutigkeit des Terminus ausgehen. Im Wesentlichen können wir drei sprachwissenschaftliche Bedeutungsdimensionen von Diskurs unterscheiden:
1 Diskurs als satzübergreifende Struktur, als so genannte transphrastischetransphrastisch Einheit im Sinne von Text (vgl. Harris 1952).
2 Diskurs als gesprochene Alltagssprache im Kontext institutionell gebundener Kommunikation im Sinne von Dialog oder GesprächGespräch (vgl. Kurt Ehlich 1994).
3 Diskurs als Menge formal oder funktional zusammengehöriger Texte im Sinne von textübergreifender Struktur (vgl. Busse/Teubert 1994).
Während sich die Bedeutungen von (1.) und (2.) auf Einzeltexte bzw. singuläre Formen gesprochener Sprache beziehen, können wir bei (3.) von einem transtextuellen Diskursbegriff sprechen. Transtextuell heißt über den einzelnen Text hinausgehend. Der Diskurs als transtextuelle Struktur von Aussagen ist also ein sprachliches Phänomen, das nicht durch singuläre Texte begrenzt ist. Solche transtextuellen Strukturen sind mehr als ein Effekt intertextueller Verweise. Eine Linguistik des Diskurses im Sinne von (3.) ist daher auch nicht gleichzusetzen mit einer Untersuchung von Intertextualitätsphänomenen. Der Diskurs als transtextuelle Aussagenstruktur umfasst sprachliche Einheiten von der Phonem- bis zur Textebene und bringt als wissenschaftlicher Gegenstand eine eigene Spezifik mit. In der Diskurslinguistik befasst man sich unter theoretischen Gesichtspunkten mit dieser strukturellen Spezifik des Diskurses und zugleich damit, wie man konkrete textübergreifende Strukturen empirisch analysiert. Um die Umrisse der damit verbundenen theoretischen Überlegungen und die Möglichkeiten empirischer Untersuchungen der Diskurslinguistik wird es im Weiteren gehen.
2.2 Richtungen und Akzentuierungen der Diskurslinguistik
2.2.1 Textualistische und epistemologische Diskurslinguistik
Unter DISKURS wollen wir im Weiteren präzisiert einen textübergreifenden Verweiszusammenhang von thematisch gebundenen Aussagen verstehen (vgl. Busse/Teubert 1994 und Warnke 2007). Die Diskurslinguistik befasst sich mit diesem Gegenstand einerseits unter dem Gesichtspunkt der textübergreifenden Zeichenorganisation und andererseits mit Blick auf das im Diskurs manifeste gesellschaftliche Wissen. Wir sprechen daher von einer textualistischen Ausprägung der Diskurslinguistik, sofern die sprachstrukturelle Organisation von Aussagen in textübergreifenden Verweiszusammenhängen wissenschaftlicher Gegenstand ist. Sofern sprachlich manifestiertes Wissen Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses ist, kann von einem epistemologischen Diskursbegriff gesprochen werden.
1 Die textualistische Diskurslinguistik versteht sich als erweiterte Textlinguistik und lässt sich relativ leicht in das System der Linguistik einordnen. Hier werden intertextuelle Verweise und thematisch-funktionale Übereinstimmungen von Texten im Diskurs untersucht und beschrieben. Wir können auch sagen, dass die textualistische Diskurslinguistik Gebrauchsformationen von Sprache untersucht, also die Art und Weise, wie jenseits singulärer Texte Sprache verwendet wird. Mit Methoden der KorpuslinguistikKorpuslinguistik werden hier sprachliche Phänomene der Diskursrepräsentation beschrieben, also wiederkehrende Muster erfasst.
2 Demgegenüber nutzt die epistemologische Diskurslinguistik die Analyse textübergreifender Aussagenzusammenhänge, um Erkenntnisse über zeittypische Formationen des Sprechens und Denkens über die Welt gewinnen zu können. Kurz, es geht um das Wissen einer Zeit. Man fragt sich hier, was man wann und wie sagen kann, und wie über das Sagen die Welt überhaupt erst erfahrbar wird. Das sprachlich verankerte Wissen erscheint nicht zuletzt als Ausdruck von Haltungen und Einstellungen, von sprachlichen Routinen, von Macht und Regulierung. Der Diskurs reguliert immer auch, wer eine Stimme erhält, wer schweigen muss.
Beide Ausprägungen der Diskurslinguistik beziehen sich mehr oder weniger erkennbar auf den französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984). Insbesondere in der epistemologischen Diskurslinguistik, also mit dem Interesse an zeittypischen Formationen des Sprechens und Denkens über die Welt, erfolgt die sprachwissenschaftliche Aneignung der Werke Foucaults. So zielt etwa die diskurslinguistische Analyse so genannter Argumentationstopoi (vgl. Wengeler 2003) auf die Freilegung des impliziten Wissens einer Gesellschaft, das mit Foucault als anonyme Formation des Denkens über die Dinge verstanden wird. Der Diskurs ist hier eine Repräsentation von Topoi oder Schemata. Wir verstehen darunter schematisierte Formen des Sprechens und Meinens. In diesem Verständnis ist Diskurslinguistik letzthin Teil einer Semantik, die verstehensrelevantes Wissen einer Zeit rekonstruiert. Etwas komplexer ausgedrückt kann man auch von einer epistemischen Funktion sprechen. Die in den Blick genommenen Wissensbestände – etwa über Sexualität, Religion oder menschliches Zusammenleben – werden als Effekte von Aussagen beschrieben.
Textualistische und epistemologische Diskurslinguistik sind in der Forschungspraxis kaum zu trennen, ihre Abgrenzung ist eher theoretischer Art. Denn auch eine wissensbezogene Analyse von Diskursen wird, sofern sie linguistisch organisiert ist, die strukturellen Konstituenten des Diskurses in den Blick nehmen und mit Texten arbeiten. Folglich gilt die Analyse von Korpora auch als gängige Praxis aller diskurslinguistischen Arbeiten.
2.2.2 Diskurslinguistik nach Foucault