Название: Stil und Text
Автор: Michael Hoffmann
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823300175
isbn:
Das Ganze würde natürlich auch rein sprachmedial funktionieren:
Steht ein Mann im Badezimmer. In der Badewanne schwimmt ein Karpfen. Der Mann gießt eine Flasche Alkohol nach der anderen in die Wanne und ruft seiner Frau zu: „Schatzi, dies Jahr mach ick den Karpfen blau.“
In der bimedialen Fassung sind beide Teile, der sprach- und der bildmediale, aufeinander angewiesen. Fehlte einer von beiden, ginge nicht nur die WitzigkeitWitzigkeit des Textes verloren, sondern auch die Zugehörigkeit des Textes zur TextsorteTextsorte Bildwitz. Die Zeichnung für sich allein stehend würde sich allenfalls für ein Bilderrätsel eignen, bei dem der Sinn zu erraten wäre.
Abschließend sei noch ein Gedicht, Ernst Jandls „markierung einer wende“, auf seine stilistische Gestalthaftigkeit hin untersucht.
1944 | 1945 |
krieg | krieg |
krieg | krieg |
krieg | krieg |
krieg | krieg |
krieg | mai |
krieg | |
krieg | |
krieg | |
krieg | |
krieg | |
krieg | |
krieg | |
(markierung einer wende) |
Beispieltext 8: Gedicht
Ernst Jandl: Augenspiel. Gedichte. Berlin 1981: Volk und Welt, 74.
Stilfragen im Textsortenrahmen Gedicht stellen sich u.a. wie folgt:
Welche Einheiten umfasst die lyrische Textwelt, und wie werden sie bezeichnet?
Welche GestaltungsmittelGestaltungsmittel der Gattung Lyrik werden gestaltbildend verwendet?
Als mögliche Einheiten einer das Gedicht prägenden StilgestaltStilgestalt drängen sich dem Betrachter keinesfalls typische lyrische GestaltungsmittelGestaltungsmittel auf. Statt deren vor allem diese:
die Aufgliederung der Textfläche in zwei Spalten;
der KontrastKontrast/Kontrastieren zwischen einer zwölfzeiligen (links) und einer fünfzeiligen Spalte (rechts) mit dem Monatsnamen mai an fünfter Position;
das zwölfmalige Vorkommen des Gattungsnamens krieg in der linken Spalte und dessen viermaliges Vorkommen in der Spalte rechts;
das Vorkommen von ZahlwörternZahlwort (Jahreszahlen) in Ziffernschreibweise als fettgesetzte Spaltenüberschriften (1944 und 1945).
Für die Synthese der GestalteinheitenGestalteinheit zu einer den Text prägenden GestaltqualitätGestaltqualität sind alle diese Beobachtungen am Text wesentlich. Alle registrierten Einzelheiten verweisen auf Eigenschaften, wie sie Kalendern in dieser oder jener Form zukommen. Kalender enthalten Jahreszahlen und Monatsnamen; sie sind in Spalten aufgegliedert und weisen eine zwölfteilige Struktur auf, in der der Monat Mai die fünfte Position besetzt. Dem Text – so wird man es deshalb sagen dürfen – ist die GestaltungsideeGestaltungsidee eingeformt, ein Gedicht in Kalenderform, eine lyrische Textwelt in der Art eines Kalenders zu präsentieren. Natürlich handelt es sich nur um eine schwach ausgeprägte ÄhnlichkeitsbeziehungÄhnlichkeitsbeziehung mit der TextsorteTextsorte Kalender. Aber wenn man sie bemerkt, d.h. sieht, könnten die Spalteninhalte mit dem stereotyp wiederholten Wort krieg als Einträge eines Kalenderbenutzers interpretiert werden und somit als ein Hinweis darauf, dass sich ein lyrisches SubjektLyrisches Subjekt als Stimme in der Textwelt des Gedichts artikuliert, aber im Monat Mai verstummt, da ja Monatsnamen in Kalendern vorgedruckt sind. Vielleicht mag sich der eine oder andere Rezipient des Textes zu Recht fragen, ob der Text überhaupt als ein Exemplar des Lyrik-Genres Gedicht gelten kann. Der Autor Ernst Jandl jedenfalls hat sich zu dieser Frage selbst geäußert und sie mit Ja beantwortet (vgl. Fix/Poethe/Yos 2001: 141).
Beim Entdecken der GestaltungsideeGestaltungsidee (Gedicht in Kalenderform) ist das Wissen des Rezipienten in zweifacher Hinsicht gefragt. Benötigt wird zum einen Sprachwissen: zu den Wortschatzbereichen Gattungsnamen, Monatsnamen und ZahlwörternZahlwort, zum anderen Kommunikationswissen: zu den typischen formalen Merkmalen von Kalendern und Gedichten. Wir kommen darauf zurück (siehe 3.1.2).
DISKUSSION
1 . Manche Texte weisen Stilbrüche auf. Wie verhält es sich hier mit der Ganzheitlichkeit von Stil?
‚StilbruchStilbruch’ ist eine Kategorie der Bewertung von Stil, bei der die GestaltungsprinzipienGestaltungsprinzip EinheitlichkeitEinheitlichkeit und StimmigkeitStimmigkeit als Bewertungsmaßstäbe fungieren. Es gibt gewollte (intendierte) und ungewollte Stilbrüche. Ein Beispiel für Letzteres ist eine kindersprachliche Äußerung wie Frau Müller, hast du einen Freund?, wo die förmliche Anrede und das familiäre Anredepronomen nicht zusammenpassen, unstimmig sind. Ein Beispiel für einen gewollten Stilbruch stammt aus einer Begräbnisszene in einer Filmkomödie. Der Trauerredner sagt Der teure Tote hat in seinem Leben stets die Kurve gekriegt. BrüchigBrüchigkeit an dieser Äußerung ist die Kombination von Ausdrücken der gehobenen und einer niederen StilschichtStilschicht (zum Begriff siehe Abschnitt 2.8.2). Der gehobensprachliche PhraseologismusPhraseologismus der teure Tote und der saloppsprachliche Phraseologismus die Kurve kriegen passen nicht zusammen. Sie sind für den GestaltungsaktGestaltungsakt Komisieren eingesetzt worden. Das Beispiel zeigt, dass auch Stilbrüche als StilgestaltenStilgestalt angesehen werden können – hier mit der GestaltqualitätGestaltqualität Komik als funktionalem Gestaltungszusammenhang zwischen zwei nicht zueinander passenden GestalteinheitenGestalteinheit. Dagegen müssen ungewollte Stilbrüche, die unfreiwillig komisch sein können, als Pannen oder auch als Fehler bei der Gestaltbildung eingestuft werden.
2 . Sind MustermischungenMustermischung Stilbrüche?
Legte man den Bewertungsmaßstab EinheitlichkeitEinheitlichkeit an, müsste man bei MustermischungenMustermischung (siehe dazu die Beispielanalysen zu den Texten 3 und 4 im Abschnitt 2.2) von gewollten Stilbrüchen sprechen. Legt man indes den Bewertungsmaßstab StimmigkeitStimmigkeit an, wird man in Mustermischungen, die dem Realisieren von GestaltungsideenGestaltungsidee dienen, keine Stilbrüche sehen, da die kombinierten Merkmale aus verschiedenen Mustern zueinander passen.
3. In der Literatur wird bisweilen davon gesprochen, dass StilgestaltenStilgestalt erst im Kopf des Rezipienten entstehen. Stimmt das?
Mit Ja beantwortet wird diese Frage u.a. von Ulf Abraham (1996: 290). StilgestaltenStilgestalt seien ein Gestalterlebnis und somit im wahrnehmenden Subjekt aufzusuchen, nicht im Text. Nach unserer Auffassung aber sind Stilgestalten wahrnehmbare und interpretierbare Ganzheiten im Text, d.h., ob und wie sie wahrgenommen und interpretiert werden, ist in der Tat rezipientenabhängig. Bevor sie jedoch wahrgenommen und interpretiert werden können, müssen sie wahrnehmbar und interpretierbar gemacht worden sein – sie sind also auch produzentenabhängig. Und als Gestaltungsprodukte sind sie – dieser Logik folgend – Eigenschaften von Texten. Anderenfalls müsste man auch Text und Stil voneinander trennen, so wie es Ulf Abraham konsequenterweise tut. Und folgte man dieser Auffassung, verlören auch gebräuchliche Gestaltkennzeichnungen wie Textdesign oder LayoutLayout (siehe Abschnitt 3.4.1) ihre Bindung an die Materialität von Texten und wären ausschließlich kognitive Entitäten.
2.4 Kontextbezogenheit
Wir machen uns СКАЧАТЬ