Название: Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783823301905
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Fassen wir rekapitulierend die vier wichtigsten Bausteine zum Thema Kultur in Zusammenhang mit der Vielfalt im öffentlichen Raum zusammen. Jeder Mensch hat im Laufe seiner Geschichte einen Habitus entwickelt, der ihm als Orientierungssinn „hilft, sich innerhalb der sozialen Welt im allgemeinen und spezifischer Praxisfelder im Besonderen zurechtzufinden“ (Schwingel 1998: 57), besonders in der Öffentlichkeit. Wichtig dabei ist die Tatsache, dass ein Habitus sich nur langsam verändern kann. Habitus entwickelt sich innerhalb eines soziokulturellen Kontextes, auf einem Feld der Möglichkeiten, auf dem alle kulturellen Erscheinungen durch die Praxis diverser Gruppen transformiert und weiterentwickelt werden können. Diese weiteren Entwicklungen, weil sie neu sind, stellen oft vermeintlich bedrohliche Abweichungen innerhalb der etablierten Kultur mit ihrem affirmativen Charakter dar. Zwei Möglichkeiten bieten sich in dem Fall an: die Bekämpfung bzw. Disziplinierung der neuen und möglicherweise abweichenden kulturellen Phänomene oder ihre Integration.
Integration der Gesellschaft – Integration in die Gesellschaft
In diesem Abschnitt über Integration geht es um den in den letzten Jahren möglicherweise am kontroversesten diskutierten Begriff der Sozialwissenschaften. Vernünftigerweise kann man sich nicht am sozialwissenschaftlichen Diskurs beteiligen, ohne den Begriff Integration zu verwenden, weil er unmittelbar mit der Frage nach der sozialen Ordnung zusammenhängt, und „das Problem der sozialen Ordnung und das der Integration der Gesellschaften sind der zentrale Gegenstand des Nachdenkens über die Gesellschaften immer gewesen. Es ist die Frage, wie die Gesellschaft als eine Einheit in der Verschiedenheit ihrer Systeme und Akteure möglich ist, einer Verschiedenheit, die so spannungsreich und gerade darüber dann so leistungsfähig und damit zusammenhängend macht.“ (Esser 2000: 285) Das Hauptproblem bei diesem Begriff liegt zweifelsohne in der gängigen Gleichsetzung bzw. Verwechselung von Integration als Gesellschaft mit der Integration in die Gesellschaft (vgl. Treibel 2016: 33 ff.). Unter anderem deshalb ist der Begriff Integration zum Kampfbegriff mutiert. Er wird unzulässigerweise mit anderen Begriffen, Einstellungen, Haltungen oder Ideen verwechselt oder auch willentlich z. B. mit Assimilation gleichgesetzt. In der Debatte um die Integration von Flüchtlingen wird gelegentlich eben diese Forderung als Diskriminierung angesehen und als Rassismus bezeichnet. Diese Einschätzung speist sich aus dem Missverständnis, dass die Forderung nach Akzeptanz der rechtlichen Basis und vorherrschender Grundwerte, die in Summe für die Organisation und Gestaltung des Alltags wie auch das Selbstverständnis der Umgebungsgesellschaft – einschließlich der Gestaltung der Vielfalt des Öffentlichen Raums – von größter Bedeutung sind, eine unzulässige Beschneidung der Persönlichkeitsrechte bedeuten würde.
Die Forderung nach Assimilation wiederum beruht auf einer fremdenfeindlichen, xenophoben oder rassistischen Haltung, die der Illusion einer kulturell homogenen Gesellschaft unterliegen und deswegen von „den Fremden“ verlangen, sich auf eine Weise in die Gesellschaft einzugliedern, die sie nicht mehr als Andersartige erkennbar sein lässt. Insbesondere sollen sie das reibungslose Funktionieren der diversen Funktionssysteme der Gesellschaft nicht stören. Dafür werden Bedingungen benannt, welche, ganz im Sinne einer vermeintlich kulturell homogenen Gesellschaft, von den neuen Bevölkerungsgruppen erfüllt werden und bei den nachfolgenden Generationen dazu führen sollen, dass diese Gruppen voll und ganz unauffällig werden. Gefordert wird hier also nicht Integration, sondern Assimilation: in Erscheinung und Verhalten der Aufnahmegesellschaft angepasst oder vielmehr untergeordnet. Dass dies nicht geschieht, wird oft als Renitenz interpretiert, gefolgt von der Forderung nach restriktiven Maßnahmen mit der Vorstellung, damit Assimilation erzwingen zu können. In Wahlkampfzeiten blühen bei diversen Parteien die abstrusesten Vorschläge zum Thema Integration von Migranten bzw. Flüchtlingen. Der Begriff Integration wird also aus verschiedenen Perspektiven oder politischen Haltungen heraus missinterpretiert und missbraucht. Angesichts dieser Tatsache wird von Seiten mancher Sozialforscher*innen und politischer Gruppen immer wieder die Forderung laut, den Begriff Integration aufzugeben (vgl. Treibel 2016: 42). Das ist verständlich, allerdings erfüllt bisher keiner der vorgeschlagenen alternativen Begriffe die Erwartungen, und zwar weder semantisch noch soziologisch (ebd.). Dazu gesellt sich ist die Frage, ob die Wissenschaft immer dann neue Begriffe entwickeln muss, wenn vorhandene politisch oder ideologisch missbraucht werden. Ich halte es hier mit Judith Butler, die sich dazu wie folgt äußert: „das veränderliche Leben des Begriffs bedeutet nicht, dass er nicht zu gebrauchen ist. Wenn ein Begriff fraglich ist, soll das etwa heißen, dass wir also nur diejenigen Begriffe verwenden können, die wir bereits beherrschen? Wenn man einen Begriff befragt, warum sieht es dann so aus, also wollte man seine Verwendung verbieten lassen?“ (zit. nach Scherr 2006: 169). Das gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff Integration, sondern genauso für den Begriff Kultur.
Im soziologischen Sinne hat der Begriff Integration eine lange und wichtige Tradition, auch wenn er als Idee unter sehr unterschiedlichen Konzepten und Begriffen in der Literatur erscheint und verwendet wird, und als Arbeitsinstrument in der Wissenschaft weiterentwickelt werden sollte (Treibel 2016: 43). Als Gegenbegriffe kennen wir z. B. die Desintegration, aber auch Segmentation, Anomie, Exklusion oder Ausgrenzung, abweichendes Verhalten, Devianz, Dissoziation, Segregation, Fragmentierung usw. Diese Begriffe haben alle ihre Berechtigung, weil sie jeweils besondere Aspekte der Nicht-Integration beschreiben. Sie sind sehr nützlich für eine differenzierte Diskussion, aber besonders interessant ist, dass alle uns mitteilen, was mit einer nicht integrierten Gesellschaft geschieht, dass diese nämlich zerfällt. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist die Voraussetzung für ihr Funktionieren. Und natürlich brauchen die einzelnen Teile der Gesellschaft, also die Gruppen und ihre Individuen, etwas Gemeinsames, damit die gesellschaftliche Integration gewährleistet wird. Um den Integrationsgrad einer sozialen Gruppe festzustellen, nennt Durkheim (1997) drei Dimensionen: die Zahl und die Intensität der Interaktionen zwischen den Individuen innerhalb der Gruppe, also eine eher zivile Dimension; das Teilen gemeinsamer Werte, in diesem Fall handelt es sich um eine moralische Dimension; und gemeinsame Ziele, was in etwa einer politischen Dimension entspricht. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Theorie Durkheims muss noch erwähnt werden: Durch die Integration wird das Individuum nicht den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen, sondern an sie gebunden.
Integration ist in der Tat zunächst nichts anderes als der Zusammenhalt von Teilen in einem systemischen Ganzen oder der Prozess der Eingliederung der einzelnen Individuen in eine Gruppe oder von einzelnen Gruppen in eine Gesellschaft oder von unterschiedlichen Individuen oder Gruppen in ein Ganzes. Integration ist nie starr und kann ganz unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Dadurch, dass es sich immer um einen dynamischen Prozess handelt, ist es nicht möglich, von einem Integrationsprozess zu sagen, dass er definitiv ist, weder definitiv gescheitert noch definitiv gelungen. Man kann bestenfalls durch bestimmte Zustandsindikatoren Tendenzen feststellen, die mit bestimmten Erscheinungen verbunden sind. Indikatoren können uns anzeigen, ob gerade eine Integration СКАЧАТЬ