Название: Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783823301905
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Atmosphärische Verdichtungen im öffentlichen Raum
Diskursanalytische Untersuchungen, wie sie z. B. vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung durchgeführt wurden, zeigen, wie stark Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Vorurteil und Ressentiment gegenüber unerwünschten Fremden im Alltag und in der Alltagssprache verankert sind (vgl. Jäger 1992). Diese Vorurteile bilden im öffentlichen Raum unter bestimmten Bedingungen eine Grundstimmung, welche sich je nach Gegebenheit zu einer problematischen Qualität steigern kann, die ich atmosphärische Verdichtung nenne. Wenn z. B. aktuelle Ereignisse wie Terroranschläge vor dem Hintergrund konservativer Orientierungen und entlang rechter ideologischer Deutungsmuster interpretiert werden, entstehen immer wieder bei der Mehrheitsbevölkerung Stimmungen, die den Bereich der latenten feindlichen Haltung gegenüber unerwünschten Fremden verlassen, und sich dezidiert zu offen rassistischen und aggressiven Positionen entwickeln. Diese atmosphärischen Verdichtungen können sich bei einem gegenseitigen Aufschaukeln der Akteure insbesondere unter Alkoholeinfluss zu einer emotionalen Qualität steigern, aus der oft strafrechtlich relevante Handlungen entstehen. In besonderer Weise problematisch ist, dass derlei atmosphärische Verdichtungen den Kontext für Enttabuisierungsprozesse liefern, die sich wiederum als Grundlage für neue Konstruktionen der Normalität eignen, neue Mythen über die unerwünschten Fremden entwickeln und Grenzüberschreitungen – gleich ob auf der Diskurs- oder Handlungsebene – quasi legitimieren, sicher aber erleichtern (vgl. Jäger 1992: 220 ff.; 295 ff.). „So sind die in rassistische Diskurse Verstrickten zwar Opfer eines ‚Geistes geistloser Zeit‘. Indem sie in den rassistischen Diskurs verstrickt sind, sind sie aber zugleich potentielle Täter, die eines Tages auch zu wirklichen Tätern werden können, oder zumindest aktive Mitläufer. So gesehen, sind sie ‚unschuldige Täter‘, ihre ‚Unterwerfung unter das Gegebene‘, das angeblich ‚Normale‘, korrespondiert mit ihrer Rebellion gegen den mythisch beschworenen, als unnormal gezeichneten Ersatzfeind.“ (ebd.: 297)
Fazit
Wenn Menschen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, treffen immer komplexe Welten aufeinander, wenngleich diese Komplexität in der Regel kaum sichtbar wird. Dennoch wirken bei jeder Begegnung auf ganz unterschiedlichen Ebenen viele Kräfte und Logiken im Verborgenen, die kaum vom einzelnen Subjekt wahrgenommen, geschweige denn beeinflusst werden können. Dabei entstehen permanent und unauffällig neue Paradigmen, die dauerhaft das Zusammenleben der beteiligten Akteure und ihre jeweiligen Orientierungen und Einstellungen beeinflussen. Dies geschieht nicht reibungslos. Konflikte gehören dazu und erfüllen eine positive Funktion, wenn die Politik, gleich ob auf nationaler oder lokaler Ebene, es versteht, für die Integration intelligente Regulative einzusetzen. Sie können juristischer, organisatorischer, kultureller, sozialer oder technischer Art sein, wichtig ist vor allem, dass diese Instrumente das Grundprinzip der demokratischen Partizipation aller Beteiligten berücksichtigen und eine würdevolle Anerkennung der Differenzen berücksichtigt, soweit diese von den Akteuren selbst beansprucht werden, denn „eine emanzipierte Gesellschaft … wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“ (Adorno 1951: 130). Was diese Differenzen nicht dürfen ist, die grundlegenden Prinzipien und Werte der demokratischen Rechtsordnung in Frage zu stellen und den Weg zu einer Gesellschaft, in der „man ohne Angst verschieden sein kann“ (ebd.: 131), zu versperren.
Literatur
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