Название: Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783823301905
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Kant unterscheidet nun drei Formen des Egoismus: Es gibt ihn demnach in logischer, ästhetischer und in praktischer Hinsicht. Von besonderem Interesse ist hier der moralische Egoist. Kant charakterisiert ihn wie folgt: „Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt […].“ Das ist für Kant, den Vertreter einer rigorosen Pflichtethik, höchst unbefriedigend. Wie lässt sich nun dieser Neigung, diesem tief verwurzelten Egoismus begegnen? Wie lässt sich – psychoanalytisch gesprochen (vgl. Freud 1924) – auf den Narzissmus reagieren? Kant macht hier einen sehr bedenkenswerten Vorschlag: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltenbürger zu betrachten und zu verhalten“ (Kant 1799/1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich).
Kant, so wird hier deutlich, hatte bereits ein feines Gespür für die Versuchung des Narzissmus, die derzeit wieder intensiv diskutiert wird (vgl. Dombek 2016). Unter der Überschrift des Egoism verzeichnet er zunächst den stillen Jubel, mit dem wir den Wechsel von der Rede der 3. Person Singular zur 1. Person Singular vollziehen. Dieser Wechsel gilt auch Kant als eine große Errungenschaft. Aber er weiß schon um die Abgründe des Egoismus; er sucht bereits nach einem Gegengift – und sieht dies im Pluralismus, den wir in uns ausbilden sollten. Der Aufklärer aus Königsberg setzt an dieser Stelle nicht zu tiefgreifenden systematischen Ausführungen an; so verlangt es auch keinen größeren interpretatorischen Aufwand, das Verhältnis von Egoismus und Pluralismus etwas näher zu bestimmen. Vorgängig ist der Egoism; er scheint für Kant zur natürlichen Ausstattung des Menschen zu zählen. Und obwohl wir das Ich als Instanz am wenigstens uns selbst verdanken, pflegen wir doch ein affektiv besetztes Verhältnis zu unserem Selbst. Weil dieser Egoismus in der Gefahr steht, fortwährend zu wachsen, ist er auf eine gegenläufige Kraft angewiesen. Der kantsche Egoism muss also in eine Balance gebracht werden – und eben dies geschieht durch die Ausbildung dessen, was er den Pluralism nennt. Erst wenn beide hinreichend stark ausgeprägt sind, nimmt die Ich-Entwicklung jene Form an, die auch den Ethiker Kant überzeugt.
Slavoj Žižek sucht radikale Erfahrungen
Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass sich diese eigentümliche Doppelbewegung begrifflich auch als Bildung fassen lässt. Ich lese mithin Kant so, dass er zwei gegenläufige Bewegungen identifiziert und diese aufeinander bezieht: Er kennt eine Bewegung der Zentrierung, die zu einem stabilen, identifizierbaren Ich führt, das über klare Grenzen verfügt. Dieses Ich prägt ein positives Selbstverhältnis aus und wähnt sich als Mittelpunkt der Welt. Weil es sich dabei um eine radikale Täuschung handelt, um ein veritables Missverständnis, um eine Selbstverkennung, darf die Ichwerdung in diesem Stadium nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Das Ich muss daher den Egoism wenn nicht überschreiten, so doch in sich eine gegenläufige Instanz aufbauen. Eben dieses Gegengewicht zum Egoism ist der Pluralism. Der Bewegung der Zentrierung korrespondiert daher bei Kant eine Bewegung der Dezentrierung, über die das Ich lernt, sein irriges Selbstverhältnis zu überwinden.
Die These, die ich nun zu plausibilisieren suche, lautet: Genau jenes komplizierte Zusammenspiel zweier gegenläufiger Bewegungen ist geeignet, der Diskussion um den Bildungsbegriff wichtige Impulse zu verleihen (vgl. Tenorth 1997; Dörpinghaus 2016; Rieger-Ladich 2019). Und nicht nur dies: Sie kann nicht nur die Debatte um den Bildungsbegriff beleben, sondern auch neue Perspektiven für die politische Bildung eröffnen. Kants Rede von Egoism und Pluralism kann als eine Möglichkeit interpretiert werden, die Politische Bildung neu zu buchstabieren.1
In der Vergangenheit hat die erste Bewegung – jene der Ich-Ausbildung, der Zentrierung – ungleich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Wir haben zunächst, das hatte der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1991) in seinem berühmten Vortrag über das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion ausgeführt, kein ganzes, vollständiges Bild von uns. Dies wird von uns als Mangel erlebt – und so imaginieren wir jene Ganzheit, die wir schmerzlich vermissen. Wir prägen also ein halbwegs stabiles Selbstverhältnis aus und blenden dabei aus, dass wir unsere Autonomie und Ich-Stärke nur imaginieren, dass wir uns selbst fortwährend betrügen. Aber es ist ein Selbstbetrug, der uns immerhin (einigermaßen) handlungsfähig werden lässt (vgl. Schäfer 1996; Meyer-Drawe 2000).
Allerdings führt dies zu einer Limitierung der Bildungstheorie. Nicht weniger wichtig als die Bewegung der Zentrierung ist daher jene der Dezentrierung. Diese ist freilich bislang kaum zum Gegenstand der Bildungstheorie geworden. Wir müssen es eben auch lernen, von uns zu abstrahieren; wir müssen uns von der verführerischen Vorstellung lösen, im Zentrum des Geschehens zu stehen, den Mittelpunkt der Welt zu bilden.2 Diese Vorstellung schmeichelt zwar unserem Narzissmus und bedient unsere Neigung zum Selbstbetrug – und doch sollten wir nicht stehenbleiben, wenn wir von der Ich-Werdung in einem anspruchsvollen Sinne sprechen und die politische Dimension von Bildungsprozessen nicht aus den Augen verlieren wollen (vgl. Bünger / Trautmann 2012).
Damit rückt die Erfahrung von Differenz ins Zentrum der Reflexion. Wenn wir den Narzissmus überwinden wollen, den kantschen Egoism, die Liebe zum eigenen Selbst, dann müssen wir uns für jene Kontexte interessieren, in denen das möglich wird. Dabei spricht vieles dafür, sich von einem Denken zu verabschieden, das auf die Logik der Akkumulation vertraut. Wir sollten also nicht länger damit rechnen, dass wir einfach nur unsere Erfahrungen sukzessive erweitern, dass wir uns mit der Pluralität der Welten mehr und mehr vertraut machen (vgl. Koller 2012). Nicht zuletzt Theoretiker*innen, die sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt haben, sprechen davon, dass die Erfahrung von Differenz keine ist, die wir uns suchen und gezielt herbeiführen können. Die Erfahrung von Differenz wird stattdessen als ein Widerfahrnis beschrieben. Die Erfahrung von Alterität stößt uns zu; sie erschüttert und verstört uns. Sie konfrontiert uns mit Erfahrungen, die wir nicht kontrollieren können, die uns – metaphorisch gesprochen – den Boden unter den Füßen wegziehen (vgl. Buck 1984).
Es ist dies nun genau jener Typ von Erfahrung, der im Zentrum eines Essays von Slavoj Žižek (2016) steht, der vor einigen Jahren unter dem Titel Wir sind alle sonderbare Irre in der ZEIT erschien. Žižek kommt hier auf einen Typ von Erfahrung zu sprechen, den man als ein Gegenmittel zu unserem tief verwurzelten Narzissmus interpretieren kann. Er schreibt:
„Wir ‚sind‘ unsere Lebensform, sie ist unsere zweite Natur, die deshalb auch nicht direkt durch ‚Bildung‘ zu verändern ist. Dafür ist etwas viel Radikaleres vonnöten, eine Art Brechtscher ‚Verfremdung‘, eine tiefe existentielle Erfahrung, durch die uns schlagartig aufgeht, wie albern sinnlos und willkürlich unsere Sitten und Rituale sind – dass nichts natürlich ist daran, wie wir uns umarmen und küssen, wie wir uns waschen, wie wir unsere Mahlzeiten einnehmen“ (Žižek 2016: 35).
Wir müssen also zu diesem Zweck Kontingenzerfahrungen machen. Symbolische Ordnungen müssen von uns als symbolische Ordnung erlebt werden – erst dann büßen sie ihre Macht ein, unsere Lebensform zu stabilisieren und uns gegen unbequeme Anfragen zu immunisieren (vgl. Rieger-Ladich 2017a).
Bei Žižek heißt es weiter:
„Das Paradox liegt aber darin, dass wir erst diesen Nullpunkt der ‚Entnaturalisierung‘ durchschreiten müssen, wenn wir uns auf den langen und schwierigen Prozess der allgemeinen Solidarität einlassen wollen […]. Wenn wir eine allgemeine Solidarität wollen, müssen wir erst in uns selbst allgemein werden und uns in ein allgemeines Verhältnis zu uns selbst setzen, indem wir Abstand zu unserer eigenen Lebenswelt gewinnen. Dazu bedarf es harter und schmerzlicher Arbeit, nicht nur des sentimentalen Nachsinnens über Migranten als einer neuen Form von Wanderarbeitern, von ‚nomadischem Proletariat‘“ СКАЧАТЬ