Название: Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783823301905
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Integrationsprozesse selbst können in mehrere Dimensionen differenziert werden, wie etwa von der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages vorgeschlagen (Heckmann / Tomei 1999). Dabei wird zwischen struktureller, kultureller, sozialer und identifikatorischer Integration unterschieden. Die strukturelle Dimension beschreibt die rechtliche und berufliche Lage eines Individuums, die kulturelle Integration betrifft kognitive Aspekte wie die Sprache, die soziale Integration widerspiegelt Qualität und Quantität der Kontakte und Beziehungen und schließlich ist bei einer gefühlsmäßigen Bindung an das Einwanderungsland von der identifikatorisch Integration die Rede (vgl. Treibel 2016: 39 ff.). Die letzte Dimension der Integration entwickelt sich häufig erst bei späteren Generationen der Einwanderer. Alle vier Dimensionen der Integration können sich bei derselben Person sehr unterschiedlich und vor allem unabhängig voneinander entwickeln, zum Beispiel waren Arbeitsmigranten in Deutschland Jahrzehnte lang systemisch perfekt integriert, ohne Deutsch zu beherrschen und ohne private Kontakte zur einheimischen Bevölkerung zu haben.
Der öffentliche Raum
Auf den ersten Blick ist der öffentliche Raum eine simple Sache: es gehören alle Verkehrs- und Grünflächen dazu, in der Regel auch die Gewässer im Besitz einer Gemeinde oder Körperschaft des öffentlichen Rechts, die von dieser bewirtschaftet werden und für alle Menschen frei zugänglich sind. An dieser Stelle hört die simple Sache auf, denn ein „öffentlicher Raum, als jederzeit für jedermann, ohne jede Einschränkung zugänglicher Raum, hat niemals in irgendeiner Stadt existiert“ (Siebel 2016: 77). In der Tat ist die Liste der Orte lang, die auf dem ersten Blick als frei zugänglich erscheinen, es letztlich aber nicht sind. Genannt seien beispielsweise Bahnhöfe oder Einkaufszentren, die vollständig in privater Hand sind, auch wenn sie sich als öffentlicher Raum inszenieren (Kuhn 2016: 220). Dazu kommen diverse Gated Communities, abgeschirmte Hofquartiere (ebd.: 221) und nicht zuletzt die „Angsträume“; z. B. sind „Parkanlagen, in denen Frauen fürchten müssen, vergewaltigt zu werden … keine öffentlichen Räume“ (Siebel 2016: 79). Schließlich und endlich existiert der öffentliche Raum in allen Kulturen der Welt und unterliegt gleichzeitig Regeln, wobei diese je nach Epoche, Kulturraum oder Regime unterschiedlich ausfallen können. Der amerikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall (1966) beschreibt sie anekdoten- und detailreich in umfangreichen vergleichenden Studien zu diversen Kulturen. Unterschiedliche Elemente wie die Gestaltung des öffentlichen Raums, die Kommunikations- und Bewegungsformen in ihm, die Grenzen der Intimität, die sinnliche Wahrnehmung der Umwelt durch die Akteure, das Verhältnis der Geschlechter, der Generationen und Klassen zueinander u. v. m. spielen dabei wichtige Rollen. Die genannten Studien mögen in Zeiten der Globalisierung zum Teil obsolet erscheinen, nichtsdestotrotz kann jeder Tourist noch heute ohne große Anstrengungen und ohne wissenschaftlichen Blick die bedeutenden Differenzen zwischen einem Markt in Nordafrika und einem in Deutschland wahrnehmen und damit die Ergebnisse der vergleichenden Studien von Hall aus der subjektiven Erfahrung heraus bestätigen. Das ist eine wichtige Feststellung angesichts der zunehmenden kulturellen Vielfalt im öffentlichen Raum im Zuge von größeren Migrationsbewegungen und daraus entstehenden Unsicherheiten. Jeder Mensch bewegt und benimmt sich im öffentlichen Raum zunächst entsprechend seiner Sozialisation. Hierbei existieren zwischen unterschiedlichen Kulturen reale Differenzen. Wenn nun unterschiedliche Kulturen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, treffen zwangsläufig auch diese Differenzen aufeinander. Viele dieser Differenzen mögen Konstruktionen sein, sie werden trotzdem gelebt, „zweifellos spielt Ethnizität heutzutage eine Rolle – Menschen identifizieren sich als Russen, Polen oder Türken und werden als solche gesehen; sie glauben, ihre ethnischen Zugehörigkeiten transportieren bestimmte Eigenschaften, oder sie bekommen diese Eigenschaften von außen zugeschrieben“ (Terkessidis 2010: 118 f.).
Zum öffentlichen Raum in Deutschland gibt es eine umfangreiche Literatur. Hier wird deutlich, dass der Umgang mit dem öffentlichen Raum, seine Gestaltung und Nutzung weder einheitlich noch zufällig oder neutral sind (vgl. Bernhard 2016). Alles was im öffentlichen Raum wahrgenommen wird oder im Verborgenen wirkt, ist Ergebnis „lange(r) Auseinandersetzungen, die auch mit den Mitteln des architektonischen Designs, also mit Symbolen geführt werden. Dabei geht es um sehr viel. Wer das Bild eines Raumes und die Regeln, die darin gelten, bestimmt, der entscheidet auch darüber, wer zu diesem Raum zugelassen wird.“ (Siebel 2016: 72) Weil aber der öffentliche Raum per se permanent und für alle zugänglich bleiben sollte, werden Segregationskriterien entwickelt, die die Homogenität indirekt gewährleisten sollen. So gilt die Grundregel, dass niemand belästigt werden darf und es „sollen Ekel oder anstoßerregende Merkmale und Verhaltensweisen aus dem öffentlichen Raum herausgehalten werden. Es handelt sich um ein Prinzip mit hohem Diskriminierungspotential, denn Menschen können auf zwei Weisen gegen es verstoßen: erstens wenn sie unter bestimmten Stigmata leiden … wie körperliche Behinderung und Hautfarbe, oder als Träger sozialer Merkmale, auf die sie keinen Einfluss haben“ (ebd.: 73 f.). Damit wird Exklusivität geschaffen und das Wesensmerkmal des öffentlichen Raums, nämlich die freie Zugänglichkeit, teilweise aufgehoben. Gleichzeitig wäre in globalisierten Zeiten die totale Kontrolle des öffentlichen Raums in einer liberalen und marktorientierten Gesellschaft kontraproduktiv für eben diese, und so kommt es dort trotz symbolischer oder konkreter Inklusionssperren doch zur kulturellen Vielfalt mit den zwangläufig dazu gehörenden Nutzungskonflikten (vgl. Kuhn et al. 2012: 203).
Anonymität im öffentlichen Raum
Der Grad der Anonymität im öffentlichen Raum nimmt mit der Größe des Ortes zu. In einem Dorf sind die sozialen Verflechtungen oft so eng, dass die Individuen sich selten als Unbekannte begegnen, sondern meistens als Menschen, deren Status als Angehörige einer bestimmten Familie oder als Teil eines Beziehungssystems zugewiesen bzw. bekannt sind. Das ist die Grundlage der sozialen Kontrolle, welche die Atmosphäre für das öffentliche Leben bestimmt. Kaum jemand kann sich im öffentlichen Raum eines Dorfes ungestraft den expliziten oder impliziten Regeln des Miteinanders widersetzen. Nicht so in der Stadt, in der die Anonymität charakteristisch für den öffentlichen Raum ist. Hier halten sich Menschen auf, begegnen sich, interagieren eventuell flüchtig miteinander, ohne sich zu kennen, ohne erkennbare Bindungen oder Verpflichtungen. Wir erfahren in der Regel über die optisch wahrnehmbaren Unterschiede hinaus wenig über die diversen Akteure im öffentlichen Raum. Wer sie sind, woher sie kommen, wo sie hinwollen, ihre Ziele und Absichten, alles ist offen, denn der öffentliche Raum steht allen Menschen zur Verfügung, mit den weiter oben erwähnten Einschränkungen ist er für alle Menschen zugänglich, es ist also gleichzeitig der Ort, in dem die ganze Vielfalt, welche die Menschen auszeichnet, sich begegnen kann und dies auch tut. Stadtsoziologisch spricht man hier von einer unvollständigen Integration (vgl. Bahrdt 1961: 39 ff.). Dies sagt nun nichts über den realen gesellschaftlichen Integrationsgrad der einzelnen Individuen, ob systemisch, kulturell, sozial oder identifikatorisch (siehe weiter oben), sondern nur, dass dieser Integrationsgrad sich nicht von selbst erschließt. Selbstverständlich haben alle Individuen, die sich im öffentlichen Raum begegnen, einen Status, sie sind im Sinne von Pierre Bourdieu (1979) mit diversen Kapitaltypen ausgestattet, haben also ein gewisses Bildungsniveau, besitzen bestimmte Kompetenzen und eine gewisse Kaufkraft, sie haben Familie und Freunde, sie verkehren in bestimmten Milieus, kurz, sie haben ein eigenes komplexes Leben, das man auf den ersten Blick selten erahnen kann. Die gesellschaftlichen Rollen der Akteure bleiben im öffentlichen Raum verborgen, es sei denn, Statusattribute werden durch Kleidung oder Accessoires symbolisch zur Schau gestellt, wie in Jugendkulturen, politischen Bewegungen oder Religionen immer wieder üblich. Ein Status kann sich auch СКАЧАТЬ