Название: Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783823301905
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Dies ist nun durchaus nicht so außerordentlich, wie es zunächst vielleicht klingen mag. Jede und jeder von uns kennt diese Erfahrung, von der Žižek spricht. So ist die Erfahrung der Dezentrierung auch nicht das ganz Andere, das sich ereignishaft vollzieht. Es sind nicht zuletzt ästhetische Erfahrungen, die uns dazu verführen (können), uns von dem liebgewonnen Selbstverhältnis zu lösen. Ästhetische Erfahrungen konfrontieren uns mit Alterität, sie lassen uns Differenz schmecken; sie vermögen es, eine Drift auszulösen, die uns aus dem Zentrum rückt – und dies, indem sie uns mit anderen sozialen Milieus, mit anderen Grammatiken, mit anderen Erfahrungsräumen vertraut machen (vgl. Rieger-Ladich 2014). Ästhetische Zeugnisse verführen uns dazu, von unserem Ich abzusehen, das Vertraute hinter uns zu lassen – und uns mit anderen Biographien und Lebensläufen, mit anderen Liebesbeziehungen und Formen des Begehrens, mit anderen Schicksalen und Tragödien vertraut zu machen. Wir sind daher dringend auf ästhetische Zeugnisse – auf Romane und Comics, auf das Theater und die Oper, auf Kinofilme und TV-Serien – angewiesen, wenn wir das Eigene als das Eigene begreifen wollen, wenn wir das ernsthaft befragen wollen, was uns vertraut ist (und richtig erscheint).
Wenn wir also jenen Pluralism in uns ausbilden wollen, von dem Kant spricht, wenn wir jene allgemeine Solidarität entwickeln wollen, von der Žižek spricht, dann besteht eine Möglichkeit darin, sich ganz gezielt ästhetischen Zeugnissen zuzuwenden. Sie betreiben jene Befremdung des Eigenen, auf die wir dringend angewiesen sind. Romane, Filme und TV-Serien sind Agenten der Alterität – und als solche trainieren sie unsere Vorstellungskraft (vgl. Gabriel 2013; Rieger-Ladich 2017b). Mit der Inanspruchnahme unserer Vorstellungskraft üben sie zugleich unsere Fähigkeit des Perspektivenwechsels. Die Identifikation mit fiktionalen Figuren bedient daher nicht notwendig den Eskapismus; sie kann dem Training unsere Fähigkeit der Perspektivenübernahme – und damit der Empathie – dienen. Der Bewegung der Dezentrierung korrespondiert somit die Entwicklung unseres Einfühlungsvermögens (vgl. Stein 1917). Wir müssen, so scheint es, regelmäßig einüben, von uns abzusehen; wir müssen unser Vorstellungsvermögen beharrlich trainieren – wie einen Muskel, den wir im Fitnessstudio immer wieder mit neuen Reizen versorgen, um ihn sukzessive auf ein neues Niveau zu führen.
Indem ästhetische Zeugnisse – etwa: Romane, Kinofilme, Platten und Fernsehserien – unser Einfühlungsvermögen schulen, rücken sie uns aus dem Zentrum; sie können dergestalt als Gegengift zu unserem Narzissmus wirken und unsere Empathiefähigkeit trainieren. Und auf diese Weise können sie dazu beitragen, dass wir empfänglicher werden und dünnhäutiger für das Leid und das Unglück anderer. Dass die Ausbildung dieser Fähigkeit auch politisch dringend geboten ist, scheint mir außer Zweifel zu stehen. Nachdem Hunderttausende auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, vor Armut und Hunger den Weg nach Deutschland gefunden haben, ist es dringender denn je, die politischen Ereignisse nicht nur aus der hegemonialen Perspektive zu betrachten (vgl. Messerschmidt 2016; Rieger-Ladich 2018).
José Palazón schießt ein Foto
Dass der Mensch mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet ist, dass er von sich selbst abzusehen vermag, verweist auf eine Besonderheit der conditio humana. Wir besitzen keine Mitte; wir leben unser Leben nicht aus dem Mittelpunkt der Existenz heraus und sollten dies nicht als Makel betrachten. Helmuth Plessner hat, als einer der wichtigsten Vertreter der Philosophischen Anthropologie, daran immer wieder erinnert – und darauf verweisen, dass der Fähigkeit zur Empathie eine weitere Fähigkeit korrespondiert. In seinem Vortrag zum „Problem der Unmenschlichkeit“ (Plessner 1967/2015: 330) hält er hierzu fest: „Von alters her hat sich der Mensch als ein Zwischenwesen verstanden, halb Tier, halb Geist, eine Halbheit und Gebrochenheit, welche in eins die Quelle seiner Stärke und Schwäche ist.“ Der Mensch sei auf eigentümliche Weise exzentrisch positioniert; er kenne keine Mitte und könne sich auch aus diesem Grund die Position anderer zu eigen machen. Aber der Mensch ist nicht nur der Nähe und der Anteilnahme fähig, sondern auch der Distanznahme. Er ist zur Empathie fähig, aber eben auch zur Indifferenz.
Es ist die Abständigkeit des Menschen zu sich selbst, seine eigentümliche Gebrochenheit, die seine Ambiguität ausmacht. Allein der Mensch kann Empathie entwickeln; aber auch nur er kann die Welt objektivieren – und dabei von allen Gefühlen absehen. Und so steht diese Gebrochenheit, diese konstitutionelle Unbehaustheit, für Glanz und Elend des Menschen. Die Ausbildung von Kultur und Zivilisation ist eben auch daran geknüpft, dass er in seiner „natürlichen Umgebung“ nicht aufgeht; aber es ist eben auch diese Distanz, die ihn in die Lage versetzt, zu seinem Gegenüber ein instrumentelles und manipulierendes Verhältnis einzugehen. Der viel beschworenen Fähigkeit zur Empathie korrespondiert daher, so die Mahnung Plessners, die Fähigkeit zur Distanznahme.1 Die Rückseite der Anteilnahme ist mithin eine Haltung, die den Belangen anderer gegenüber indifferent ist (vgl. Breithaupt 2017).
Ich will dies an einem berühmt gewordenen Foto näher erläutern. Es wurde 2014 von dem Journalisten José Palazon aufgenommen (vgl. Kassam 2014). Zu sehen ist darauf der Golfclub der Stadt Melilla, der durch einen ca. 5 Meter hohen Zaun geschützt ist. Der Golfplatz wird von einigen Spielern genutzt. Es ist allerdings noch eine andere Personengruppe zu sehen: Auf dem Kamm des Zaunes sitzen Geflüchtete, die den Zaun zu überwinden suchen. Die Gemeinde Melilla ist eine spanische Exklave und liegt auf dem afrikanischen Kontinent. Sie grenzt an Marokko und befindet sich auf einer stark frequentierten Flüchtlingsroute. In den vergangenen Jahren versuchten Hunderte Geflüchteter, diesen Drahtverhau zu überwinden. Nur wenigen gelang es; und die meisten derer, die es schafften, den Zaun zu erklettern, wurden von der Guardia Civil dazu genötigt, ihn umgehend wieder zu verlassen. Diese berühmte Aufnahme illustriert daher wie ganz wenige sonst, was Plessner in seinem eindrücklichen Text zur Unmenschlichkeit zum Gegenstand gemacht. Das Foto zeigt in aller Schonungslosigkeit, wozu wir Menschen fähig sind.
Die Golfer, die hier zu sehen sind, gehen ihrem Hobby nach. Sie treiben Sport, gönnen sich etwas Bewegung; sie arbeiten womöglich auch an ihrem Handicap – und dies, während in unmittelbarer Nähe Menschen auf der Flucht sind. Menschen, die womöglich ihre Familienmitglieder zurückgelassen haben, die vor Krieg und Elend geflohen sind, die Schreckliches erlebt haben, die versuchen, einen Fuß auf den Boden des Golfplatzes zu setzen, weil dieser zu Spanien zählt. Es gibt also Menschen, das zeigt diese Aufnahme, die im Angesicht größter Not ihrem kostspieligen Hobby nachgehen, die im Anschluss vielleicht ein schattiges Plätzchen aufsuchen und einen kleinen Imbiss zu sich nehmen. Und dies: vis-à-vis zu jenen, die womöglich alles, was sie noch besitzen, am Leib tragen, die fürchten müssen, von der Guardia Civil festgenommen zu werden, die einen verzweifelten Blick auf das werfen, was sie (auf legalem Wege) vielleicht nie erreichen werden.
Wenn wir diese Aufnahme nun mit den Augen Plessners betrachten, so lautet eine schmerzhafte Lektion: Wir sollten die weißen Golfer nicht als „unmenschliche“, „grausame“ Vertreter ihrer Art betrachten; sie führen uns nur vor, wozu wir aufgrund unserer Konstitution in der Lage sind. Wir können Anteilnahme entwickeln, aber – wir müssen es nicht. Es gibt hier keine Automatismen. Wir sind mit dem Vermögen zum Perspektivenwechsel ausgestattet; wir können von unseren Interessen absehen; wir können der Versuchung des Egoism (Kant) widerstehen; aber wir können eben auch genau das Gegenteil tun. Wir können die Augen verschließen vor dem Leid anderer; wir können abstrahieren von den Nöten anderer (vgl. Sontag 2003). Wir können uns СКАЧАТЬ