Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht. Gabriele Bergfelder-Boos
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СКАЧАТЬ des mündlich-fiktionalen Erzählens genügt nicht allein die Übernahme der narrativen Jobs (Kap. 3.2.2) durch die Kommunikationspartnerinnen und -partner. Auf Seiten der Rezipierenden bedarf es der Disposition, die fiktionale Inszenierung wahrzunehmen und sich damit auf eine Interaktionsform mit der Erzählung einzulassen, die Klinkert als „ästhetische Einstellung“ (Klinkert 2004: 33) bezeichnet. Auf Seiten der Erzählenden bedarf es der Bereitschaft, das mündliche Erzählen als Inszenierung (Kap. 4.1) mit performativen Mitteln auszugestalten und damit eine Interaktionsform anzubieten, die ich in Anlehnung an die Disposition der Rezipierenden als ästhetische Angebotshaltung bezeichnen möchte. Das Zustandekommen des pacte de fiction auf der Grundlage textueller Signale und ästhetisch-interaktioneller Übereinkünfte der Kommunikationspartner macht es möglich, dass das mündliche Erzählen im Klassenzimmer zu einem ästhetischen Erlebnis der Fremdsprache werden kann. Damit ist auch je nach Lernstand, Lernalter und Fremdsprachenprofil der Rezipierenden die Möglichkeit gegeben, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Handlung der Erzählung, sondern auch auf ihre „Gemachtheit“ (Klinkert 2004: 33) zu richten und diese sprachpraktisch zu nutzen. Die Verwandlung der narrativen Diskurseinheit in eine Aufführung wird in der Untersuchung der performativen Dimension (Kap. 4.1), die Überführung des fiktionalen in einen performativen Pakt wird in der Auswertung der empirischen Ergebnisse (Kap. 11.2.7) thematisiert.

      3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen

      Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen in erster Linie um Märchentexte, in zweiter um Albums pour enfants handelt, wird die Recherche des Potenzials mündlich-fiktionalen Erzählens im Hinblick auf diese literarischen Genres, schwerpunktmäßig auf das Genre Märchen, fortgesetzt. Dies geschieht unter drei Gesichtspunkten: dem prototypischen Charakter des Märchens, seiner Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip (Kap. 3.5.3) und der Frage seiner Zugehörigkeit zum System der Literatur.

      Als Prototyp des Narrativen1 wird das Märchen wegen seiner „noch relativen Nähe zur Urform des mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36, Lange 2007b: 23-25) und wegen seines Bekanntheitsgrades, seiner Kürze und seiner Überschaubarkeit (Wolf 2002a: 44) gesetzt. Die Nähe zur ‚Urform‘, d.h. der primären Mündlichkeit, ist an den noch in der schriftlichen Verfasstheit identifizierbaren strukturbildenden Elementen (Kap. 3.5.3) erkennbar. Dazu gehören das Erzählen in Mustern bzw. Handlungsstereotypen wie Auszug, Entfernung, Vertreibung, Bewährung, Rückkehr des Helden2, ferner die Dominanz der Handlung, die additive Gestaltung des Erzählflusses, die Dialogisierung, das Formelhafte des Diskurses sowie das Prinzip der Wiederholung (Koch / Oesterreicher 1985: 30, Ong 1987: 30ff., 42ff. ). Diese strukturellen Merkmale bilden das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolff 2002a: 46). Weitere märchenspezifische Struktur- und Stilelemente tragen zur Einheitsbildung des Genres bei und charakterisieren wesentlich den vom Märchen angebotenen pacte de fiction. Dazu gehören u.a. das Wunderbare, das in der eindimensional gehaltenen Märchenwelt „nicht fragwürdiger [ist] als das Alltägliche“ (Lüthi 2005: 11), die flächenhafte, auf binären Oppositionen beruhende Figurengestaltung, die märchenspezifische Topografie, die märchenspezifischen Requisiten und Symbolzahlen (Lüthi 2005: 8-12, 13-24).

      Die Nähe zur Mündlichkeit wird in der kinderliterarischen Forschung als ein wesentliches Merkmal der Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet.

      [Die Kinderliteratur] hat sich bemüht, eine gewisse Nähe zur Mündlichkeit zu wahren; ja, sie erscheint streckenweise als eine schriftliterarische Imitation mündlicher Rede […]. Mit Blick auf die neueren Epochen darf man in dieser Nähe zur Mündlichkeit wohl das auffälligste stilistische Merkmal kinderliterarischer Texte sehen. (Ewers 2000b: 263)

      Die starke Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip teilen die Genres des Märchens und des Album mit der Kinder- und Jugendliteratur. Während sich das Album eindeutig der Kinder- und Jugendliteratur zuweisen lässt, ist die Zugehörigkeit des Märchens zur Kinder- und Jugendliteratur umstritten.

      Je nach kulturellen Traditionen, denen das Märchen entstammt, je nach literarhistorischen Gegebenheiten, nach literarischen Moden oder Einflüssen des Marktes, je nach medialen oder anderen Bearbeitungen des Märchens (Ewers 1990: 20, Neuhaus 2005: 3ff.) ist ein Erwachsenen- oder ein Kinder- / Jugendpublikum anvisiert bzw. wird es von der jeweiligen Gruppe als Märchen für Erwachsene oder als Märchen für Kinder / Jugendliche wahrgenommen. Weiterführend im Kontext meiner Studie sind die Kriterien zur Bestimmung der Kinder- und Jugendliteratur, die O’Sullivans kinderliterarische Komparatistik auf systemischer Ebene liefert. O‘Sullivan weist die Kinder- und Jugendliteratur als ein relativ selbstständiges Subsystem des literarischen Systems aus, „das über ein eigenes literarisches Handlungssystem von Hervorbringung, Vertrieb und Rezeption verfügt, welches sich von der Allgemeinliteratur abgrenzt […].“ (O’Sullivan 2000: 110). Drei Leitcharakteristika arbeitet O’Sullivan zur Abgrenzung der Systeme heraus: die Zuweisung kinderliterarischer Texte zum Subsystem durch institutionelle Vermittlungsinstanzen, die Doppelzugehörigkeit der Texte zu zwei Systemen, dem pädagogischen und dem literarischen, und die Asymmetrie der Kommunikation zwischen erwachsenem Autor und jugendlichem Leser (a.a.O.: 111). Die Zugehörigkeit der Kinderliteratur zu beiden Systemen macht diese Literatur für den Einsatz im Unterricht besonders geeignet, weil die Wirkungsabsichten beider Systeme, die pädagogische und die ästhetische, gemeinsam zur Realisierung unterrichtlicher Zielsetzungen genutzt werden können. Die institutionelle Zuteilung durch außenstehende Vermittler spielt im Kontext des mündlichen Erzählens eine untergeordnete Rolle. Von großer Relevanz ist die asymmetrische Kommunikation. O’Sullivan und andere Forscher der Kinder- und Jugendliteratur setzen an diesem Phänomen an, um zu zeigen, wie das Asymmetrieverhältnis der systemischen Ebene auf textin­ter­ner Ebene ästhetisch gelöst wird3. Im ‚Schreiben auf Augenhöhe‘ wird versucht, die kommunikative Distanz zwischen den ungleichen Partnern zu überwinden. Mittel der Überwindung sind die innertextuelle Adressierung4 und der Einsatz poetischer Mittel, mit denen der (jugendliche) implizite Leser auf Augenhöhe angesprochen wird. Eine andere Variante der Ansprache der Adressatinnen und Adressaten ist die der Doppeladressierung, bei der Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen als Adressatinnen und Adressaten in den Text eingeschrieben sind5. Dazu werden Vertextungsmittel eingesetzt, die unterschiedliche Lesarten erlauben, z.B. eine Lesart auf der Handlungsebene (für die kindliche Leserschaft) und eine auf der tieferen Bedeutungsebene (für die Erwachsenen). Auf diese Weise werden für alle Adressatinnen und Adressaten ästhetische Angebote bereitgehalten, die die realen Leserinnen und Leser je nach Interesse und literarischer Kompetenz wahrnehmen.

      Die meisten, einem breiten Publikum bekannten europäischen Volksmärchen in der Fassung ihrer Sammlerinnen und Sammler des 19. Jahrhunderts werden heute als Texte der Kinder- und Jugendliteratur gelesen, wenn sie nicht in einer besonderen textuellen oder medialen Bearbeitung, z.B. als Comic oder Musical, vorliegen. Dasselbe gilt für das Genre Album. Deshalb kann das Erzählen von Märchen oder von Zaubergeschichten ein kommunikatives Problem zwischen Erzählenden und einem – zumindest im Unterricht der Sekundarstufe I – nicht mehr kinderliterarischen Publikum darstellen. Die empirische Untersuchung der Erzählstunden wird herausarbeiten, ob und mit welchen Mitteln eine Kommunikation auf Augenhöhe zustande kommt.

      3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse zwischen zwei Mündlichkeitsformen

      Die Recherche des Potenzials mündlich-verbalen Erzählens wird durch die Frage nach der ästhetischen Konzeption des fiktionalen narrativen Diskurses fortgesetzt. Leitgedanke ist, dass die mediale Mündlichkeit der narrativen Vermittlungsform ‚Erzählperformance‘ die ästhetische Konzeption des Diskurses wesentlich beeinflusst. Deshalb werden zunächst die Charakteristika der mündlichen Erzählsituation benannt (Kap. 3.5.1) und anschließend Merkmale der Anpassung des Erzähldiskurses an die mündliche Erzählsituation herausgearbeitet. Sie bestehen in der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Erzähldiskurses (Kap. 3.5.3).

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