Weiterglauben. Thorsten Dietz
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Название: Weiterglauben

Автор: Thorsten Dietz

Издательство: Автор

Жанр: Религия: прочее

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isbn: 9783961400485

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СКАЧАТЬ andererseits dem biblischen Evangelium gerecht wird.

      Eine solche Deutung des Weges von Torsten Hebel, und überhaupt der ganze Ansatz der Basismentalitäten, hat auch Kritik auf sich gezogen.10 Für manche ist eine solche Deutung selbst schon ein Zeichen postmoderner Auflösung des klassischen Wahrheitsverständnisses. Führt die Unterscheidung solcher grundverschiedener Denkweisen nicht dazu, dass die Auseinandersetzung um die Wahrheit unmöglich wird?

      Torsten Hebels Buch Freischwimmer hätte in der evangelikalen Welt den Anstoß zu wichtigen Fragen geben können. Wie gehen wir damit um, dass so viele Menschen den intensiven Glauben ihrer Jugend irgendwann als Verirrung hinter sich lassen? Wie reagieren wir auf die Beobachtung, dass viele sagen: Für echte Zweifel, kritische Fragen, gar für Neuorientierungen in manchen Fragen ist in vielen christlichen Kreisen kein Raum? Viele Fragen sind schlicht tabu. Jeder weiß: Wenn ich dieses Thema aufwerfe, geht es nicht um dieses Thema, sondern darum, ob ich noch dazugehöre, ob ich noch Mitarbeiter sein kann etc. Was können wir lernen von denen, die nach einer Phase des Zweifels oder des Bruchs mit ihrer bisherigen Frömmigkeit neu glauben gelernt haben? Welche Atmosphäre ist wichtig, dass sich Menschen ohne Angst auf solche Wege machen können?

      Zu einer intensiven Beschäftigung mit solchen Fragen kam es nach meiner Beobachtung kaum. Wo es eine Freischwimmer-Debatte gab, standen vielmehr andere Fragen im Raum: Wie kann ein evangelikaler Verlag es wagen, ein solches Buch zu veröffentlichen? Wie konnte es überhaupt geschehen, dass man einem solchen Mann eine so große Bühne in vielen bibeltreuen Werken gegeben hat? Wie kann man solche Christen, wie sie in diesem Buch zu Wort kommen, jetzt noch in missionarische Werke einladen? Wie können Theologen aus dem Bereich pietistischer bzw. evangelikaler Ausbildungsstätten auf die Idee kommen, eine solche Entwicklung eines ehemaligen Evangelisten gutzuheißen und sie als hilf- und lehrreich zu verteidigen?

       3. Zarathustra und sein Schatten

      An vielen Stellen ist zu beobachten, dass wichtige Debatten über aktuelle Herausforderungen überlagert werden von einem regelrechten Sog der Polarisierung. In diesem Sog geht es nicht mehr um das nähere Verständnis der Sachfragen, sondern sofort um: Dieses Denken führt in die Irre bzw. ist das einzig mögliche; so zu fragen ist „liberal“ bzw. „fundamentalistisch“; wer so etwas befürwortet, gehört nicht mehr dazu bzw. muss ausgeschlossen werden etc. Wie kommt es zu dieser Logik der Polarisierung?

      Weit verbreitet ist die Diagnose: Eine solche der Logik der Polarisierung gilt als typisch für das, was man Fundamentalismus nennt. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es nur zwei konsequente Haltungen gibt, zwei Lager, zwei Richtungen. Solch fundamentalistisches Denken breite sich aus und mache zunehmend alle produktiven Gespräche unmöglich.

      Das Problem ist nun folgendes: Fundamentalismus ist keine wertfreie Beschreibung. Wer Fundamentalismus sagt, möchte die Alarmanlagen seiner Hörer anschlagen lassen. Natürlich kann man sagen, dass Idealtypen wie fundamentalistisch, modern oder postmodern in der soziologischen Betrachtung neutral verwendet werden, nicht abwertend oder verurteilend, sondern beobachtend und beschreibend. Aber die Schwierigkeit ist offenkundig: Es ist eine typisch moderne Herangehensweise, wissenschaftliches Denken als einen eigenen Weltzugang zu verstehen, bei dem man seine Wörter so verwendet, wie man sie definiert hat. In der Lebenswelt der meisten Menschen sind diese Begriffe jedoch keineswegs neutral. Prämodern klingt nach überholt und verstaubt, fundamentalistisch nach böse und gefährlich. Die öffentlichen Warnungen vor dem Fundamentalismus funktionieren nicht selten nach derselben Logik, die man „dem Fundamentalismus“ eigentlich vorwirft: hier die moderne, aufgeklärte, fortschrittliche Weltgemeinschaft – dort die bösen Fundamentalisten, die uns alle ins Unglück stürzen. So aber befördert man genau das Denken, von dem man sich eigentlich abgrenzen möchte.

      Sehen wir also näher hin? Was ist gemeint mit Fundamentalismus? Ursprünglich handelt es sich bei diesem Wort um eine konservativ-christliche Begriffsprägung. Im 20. Jahrhundert haben sich manche Christen bewusst als Fundamentalisten bezeichnet, um sich von allen liberalen bzw. modernen Erscheinungen in Theologie und Kirche abzugrenzen.11 Mit der Zeit wurde dieser Begriff übertragen auf radikale Erscheinungen aller Art: Das Wort Fundamentalisten wurde verwandt für religiöse Terroristen, für politische Extremisten und überhaupt für alles, was auf radikalen Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft setzt. Fundamentalismus gilt als „Aufstand gegen die Moderne“12. Dass sich auch sehr konservative Christen heute nicht mehr so nennen lassen möchten, ist nur zu verständlich.

      Im Folgenden möchte ich einen anderen Zugang zum Thema des Fundamentalismus suchen, einen Umgang mit diesem Begriff, bei dem nicht sofort bestimmte Gruppen gemeint sind, sondern potenziell jede Denkrichtung, wenn man sie immer weiter radikalisiert. Man versteht keine radikale Denkweise, wenn man nicht jeweils mitbedenkt, gegen was genau jemand seinen radikalen Widerspruch formuliert.

      Lernen lässt sich das beim Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Nietzsche kann man als eine Art Prophet der fortgeschrittenen Moderne bezeichnen, egal, ob man diese nun Spätmoderne oder Postmoderne nennt. „Gott ist tot“, dieser berühmte Ausspruch steht in Nietzsches Werk für den Schwund vieler traditioneller Gewissheiten, in der Religion, der Moral und der abendländischen Kultur insgesamt.

      Mit dieser Beobachtung stand Nietzsche im 19. Jahrhundert keineswegs allein. Karl Marx beschrieb diesen Prozess schon in seinem kommunistischen Manifest von 1848 – als eine Folge der Entstehung des modernen Kapitalismus:

      „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“13

      Für Marx waren diese Erschütterungen Folge der Industrialisierung und der zunehmenden Marktorientierung der ganzen Gesellschaft. Aus seiner Sicht wurden durch diese Auflösung aller Traditionen die Voraussetzungen geschaffen für eine neue Gesellschaft der Zukunft, die Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ohne religiöse Vorurteile schaffen wird.

      Viele andere hingegen, konservative Christen und Monarchisten zumal, versuchten, den Verfall der Werte zu stoppen durch Stärkung von Autorität und Tradition, mehr und mehr auch der patriotischen und nationalistischen Orientierung der Bevölkerung.

      Nietzsche hielt weder die Errichtung eines utopischen Kommunismus noch die Rettung des christlichen Abendlandes für möglich. Zugleich staunte er über die Sorglosigkeit vieler Zeitgenossen, als könnte die permanente Auflösung aller überkommenen Gewissheiten folgenlos bleiben. Für Nietzsche war klar, dass es früher oder später zu heftigen Gegenbewegungen kommen müsste gegen die Umwertung aller bestehenden Werte. Diese Entwicklung würde ihre Schattenseite mit sich bringen. In seinem Werk Also sprach Zarathustra (1883) stellte Nietzsche diese Erwartung in Gesprächsform vor, zwischen Zarathustra, dem Vorreiter des radikalen Zweifels – und seinem „Schatten“. Was das für ein Schatten ist, wird durch dessen eigene Rede deutlich:

      „Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgendetwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte. Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg. Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werte und große Namen. […] ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als roter Krebs da!“14

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