Название: Weiterglauben
Автор: Thorsten Dietz
Издательство: Автор
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783961400485
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Christen driften auseinander. Diese innerchristlichen Konflikte sind eingebettet in umfassendere Auseinandersetzungen in der heutigen Gesellschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges (1989 / 91) riefen manche ein postideologisches Zeitalter aus. Das Wiederaufflammen ethnischer und militärischer Konflikte auf dem Balkan erschien wie ein letztes Aufbäumen alter Dämonen, die Europa viel zu lange im Griff hatten. Viele träumten nun von einer Konsensgesellschaft, einer neuen Mitte, in der die alten ideologischen Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts überwunden werden sollten. Nicht mehr links oder rechts wollten viele sein, sondern vorne, pragmatisch und zukunftsorientiert. Politiker wie Tony Blair, Gerhard Schröder und Bill Clinton verkörperten um das Jahr 2000 diesen Anspruch der Integration in der politischen Mitte.
Auch im Christentum lassen sich Parallelen zu diesem Trend finden. Die konfessionellen Streitigkeiten der Vergangenheit wurden mehr und abgelöst durch einen Geist des Dialogs. Die weitgehende Einigung in Fragen der Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 macht dies deutlich. In der evangelikalen Welt gelang in Deutschland eine Versöhnung von pfingstlich-charismatischen Christen mit Pietisten und Freikirchlern, etwas, das wenige Jahrzehnte früher undenkbar gewesen wäre. Die Evangelische Allianz verstand sich als eine Einigungsbewegung. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. In vielen Bereichen der Gesellschaft ist heute die Sehnsucht nach Profilbildung erheblich größer als die nach Konsensfindung. Nicht die Integration aller Flügel, sondern die Polarisierung der Lager bestimmt in vielen Bereichen dieser Welt die politische Öffentlichkeit. Auf entsprechende Beispiele in der christlichen Welt wurde am Anfang verwiesen.
Der Titel dieses Buches, Weiterglauben, markiert diese Spannung: Die einen sehnen sich nach mehr Weite im Glauben; andere empfinden solche Weite als Auflösung, sie wollen am Glauben weiter festhalten. „Weiter“ lässt sich temporal und lokal verstehen: lokal im Sinne von mehr Weite, Flucht aus der Enge, aber eben auch temporal, weiter im Sinne von weiterhin glauben, den Glauben nicht verlieren wollen. Dieses Buch handelt von der Frage, ob und wie beides gelingen kann.
2. Die Freischwimmer-Debatte
Der durch das evangelistische Projekt Jesus House in weiten Kreisen als Evangelist bekannt gewordene Torsten Hebel hat mit seinem Buch Freischwimmer keine typische, im pietistisch-evangelikalen Milieu beliebte Beschreibung seines eigenen Lebensweges vorgestellt.5 Klar und unverblümt berichtet Hebel, wie er an vielen Gewissheiten seines bisherigen Lebens zu zweifeln begann und im Begriff war, sich vom christlichen Glauben insgesamt zu verabschieden. Erst im Laufe dieses Buchprojekts gelingt es ihm, im Gespräch mit christlichen Freunden und Wegbegleitern, einen neuen, für ihn stimmigen Zugang zum Christentum zu finden. Nun dürfte es niemanden verwundern, dass Hebel mit einem solchen Buch Irritationen in Kreisen auslöste, von denen er sich zunehmend entfernt hatte. Als Evangelist hatte Torsten Hebel einen starken Einfluss auf viele junge Menschen, von denen etliche seine Verkündigung als entscheidenden Anstoß zum christlichen Glauben ansahen. Was bedeutet das für den eigenen Glauben, wenn derjenige, dessen Vorbild und Verkündigung man Entscheidendes verdankt, sich von wichtigen bisherigen Überzeugungen distanziert?
Jürgen Schuster, Professor für Interkulturelle Theologie an der Internationalen Hochschule Bad Liebenzell, hat Hebels Beschreibung seiner eigenen Entwicklung aus theologischer Perspektive gewürdigt.6 Schuster sieht in Hebels Weg zunächst eine nachvollziehbare, auch unter jungen Christen häufige Entwicklung. Hebel hat auf seinem Glaubensweg bemerkt, dass die Art zu glauben, die er in seiner Jugend kennengelernt und in seinem Studium vertieft hat, für ihn so nicht mehr passt. Das ist keine ungewöhnliche Erfahrung. Das geht vielen Gläubigen in einem bestimmten Alter so.7 Für viele Menschen ist eine solche Entdeckung der Anlass, sich von ihrem Glauben zu distanzieren. Sie setzen ihre frühere Glaubensweise mehr oder weniger gleich mit dem christlichen Glauben als solchem – und verabschieden diesen. In ihrer Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ haben Tobias Faix, Martin Hoffmann und Tobias Künkler eine ganze Reihe solcher Erfahrungen dokumentiert. Im Grunde weiß es jeder: Seit Jahrzehnten befindet sich in den Kinder- und Jugendkreisen christlicher Gemeinden und Werke ein Vielfaches der Menschen, die später im Erwachsenenalter ihren Glauben bewusst leben und sich zu einer Gemeinde halten. Es wird sehr viel investiert in Formate, die Menschen zum Glauben einladen. Trotzdem gibt es auch unter den missionarischen Zweigen des Christentums, den Freikirchen, Gemeinschaften etc. seit vielen Jahren kein nennenswertes Wachstum, sondern weitgehend eine Umverteilung der Gläubigen von weniger attraktiven zu attraktiveren Bewegungen und Gemeinden. Weil zu wenig in Evangelisation oder Jugendarbeit investiert wird? Nein, sondern nicht zuletzt deswegen, weil sehr viele Menschen, die in bestimmten Lebensphasen gewonnen werden, mit der Zeit wieder aussteigen. Das Thema Weiterglauben sollte gerade missionarische Christen interessieren.
Insofern ist für Schuster die Lebensgeschichte von Torsten Hebel bemerkenswert und ermutigend. Denn Hebel gelingt es im Gespräch mit FreundInnen und Vorbildern, nicht einfach den christlichen Glauben insgesamt hinter sich zu lassen, sondern eine bestimmte Gestalt desselben. Er findet einen anderen neuen Zugang zu Jesus Christus und entwickelt allmählich einen Umgang mit dem christlichen Glauben, der für ihn stimmig ist. Diese Entwicklung deutet Schuster mit Hilfe des Konzepts unterschiedlicher Basismentalitäten, wie es in der soziologischen Lebensweltforschung entwickelt wurde und wie es Heinzpeter Hempelmann für die Theologie fruchtbar gemacht hat. In seiner früheren Lebensphase war Hebel durch ein Denken geprägt, das die Soziologen traditionsorientiert bzw. prämodern nennen:
„Dort hat er den christlichen Glauben stark dogmenorientiert erlebt und verinnerlicht. Er war überzeugt von einer hermeneutischen Eindeutigkeit biblischer Texte und christlicher Lehre. […] Es zeigte sich je länger je mehr, dass sein Glaube, der im Kontext eines traditionsorientierten Mindsets geprägt war, nicht mehr zu anderen Aspekten seines Lebens und Denkens passte. Mit anderen Worten, die Diskrepanz zwischen der Denkweise und Formatierung seines christlichen Glaubens einerseits und den Denkmustern und Begründungszusammenhängen der übrigen Bereiche seines Lebens, wurde zunehmend zum Problem.“8
Einen neuen Zugang zum Christentum findet Hebel dadurch, dass er Glaubensweisen kennenlernt, die stärker beziehungsorientiert, erfahrungsoffen und dialogisch eingestellt sind, sprich: die dem postmodernen Mindset stärker gerecht werden, das für sein sonstiges Leben prägend geworden ist. Grundsätzlich ist das für Jürgen Schuster eine lehrreiche und im Ansatz vorbildliche Entwicklung: „Ich gehe weiterhin davon aus, dass vielen Christen aus traditionsorientierten Gemeinden ähnliche Auseinandersetzungen bevorstehen bzw. bevorstehen können.“9
Und zugleich wirft ein solcher Weg Fragen auf. Denn eine solche postmoderne Glaubensweise verhält sich zur prämodernen Frömmigkeit nicht einfach wie Reife zu Unreife. Zu Recht weisen manche Christen darauf hin, dass konservative Glaubensvorstellungen nicht einfach als Zeichen kultureller Rückständigkeit gewertet werden können. Gar nicht so wenige verbinden einen z. B. modernen Musikgeschmack und gehobene Bildung mit traditionellen Familienwerten und konservativer theologischer Lehre.
So unbestreitbar das ist: Für andere Christen entstehen an solchen Ungleichzeitigkeiten Spannungen. Es wird nicht nur Unterschiedliches geglaubt, sondern vor allem auch auf unterschiedliche Art und Weise. Und was Torsten Hebel erfahren hat, ist eine Art Wechsel des Glaubensstils. Mindestens im Ansatz sollte man versuchen, unterschiedliche Glaubensstile zunächst einmal genau wahrzunehmen und zu beschreiben. Vielleicht hat ja jede Glaubensweise ihre Vorzüge und Chancen, zugleich aber auch ihre Risiken. Jürgen Schuster geht in seiner Analyse von der Einsicht aus, dass es den christlichen Glauben nie in Reinform gibt, sondern immer in einem ganz bestimmten kulturell geprägten Stil. Die entscheidende СКАЧАТЬ