Название: Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons
Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Literatur aus Litauen
isbn: 9783898968560
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In beiden erwähnten Stadtvierteln gibt es ungefähr gleich viele Poeten, Künstler und Musiker. In Užupis steht die Kunstakademie, und in Žvėrynas befinden sich das philosophische und das juristische Institut, aber die Kollektive arbeiten nicht zusammen, und die beide Parteien haben tatsächlich nur deshalb noch keinen Krieg gegeneinander geführt, weil sie nie aneinander gegrenzt haben. Die Migration von Žvėrynas nach Užupis und umgekehrt ist auffallend gering, aber es lohnt sich nicht, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen, und ich glaube auch nicht an Untersuchungen, denen zufolge die Bewohner von Užupis flachere Schädel und stärker herabhängende Unterlippen haben sollen als die Bewohner von Žvėrynas. Das sind Phantasien, und den »Baltischen Untersuchungen« habe ich noch nie getraut.
Die jährlichen Niederschlagsmengen und die Temperaturen in den beiden Stadtteilen unterscheiden sich so gut wie gar nicht, und der allgemeine Zustand der Kanalisation, der Wasserleitungen und anderer Errungenschaften der Zivilisation ist sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite fast gleichermaßen beklagenswert, nur sticht einem in Užupis das Elend stärker ins Auge, denn dort sorgen die Künstler mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür, dass sich auf keinen Fall etwas verändert.
Weder in Užupis noch in Žvėrynas gibt es anständige Bordelle oder gute öffentliche Toiletten, sieht man einmal von den Botschaften, den Einfamilienhäusern oder den Missionen in der KGB-Siedlung an der Krivių gatvė in Užupis oder in dem an der Nėris gelegenen Komponistenviertel in Žvėrynas ab. Verschlägt es einen an einen solchen Ort, kann man sich sicher und musikalisch erleichtern und sich an einem schwedischen Wasserhahn der Marke »Gustavsberg« die Hände waschen, aber in Užupis gibt es einen solchen Luxus nur in dem Café gegenüber von der »Blanchisserie«.
In Žvėrynas fühle ich mich sicherer. Užupis kann ich auf sonderbare Art nicht leiden, aber es steht mir näher, denn dort habe ich Blut gespuckt und Galle hochgewürgt, dort bin ich als Fledermaus geflattert und einsam und verlassen gestorben. Žvėrynas finde ich gemütlicher, besonders wenn ich dort sitze und mein Pfeifchen schmauche. Manchmal ärgere ich mich insgeheim über die frei herumlaufenden Hunde und die frei herumlaufenden Frauen, die sich immer wieder mitsamt ihrer Oberweite über mein niedriges Fensterbrett hängen und fragen: »Gibt es hier Ratten? Gibt es hier Mäuse?« Und dann platzen sie ganz unverblümt heraus: »Hast du ein Präservativ?« Onega Mažgirdas würde so eine Frage nie stellen, und auch die Schottin Dolores Lust nicht, Grand Trix verwendet grundsätzlich keine Gummis, und Nabė … na, wechseln wir lieber das Thema.
Nach meiner Rückkehr aus dem sonnigen Suvalkija war mir in Žvėrynas an den endlos langen Sommerabenden traurig zu Mute, aber wäre ich in Užupis nicht mindestens genauso niedergeschlagen gewesen? Na also. Auch an diesem Spätnachmittag war ich traurig. Als ich endlich ausgeschlafen hatte, öffnete ich das Fenster im Erdgeschoss und betrachtete die Pfützen auf dem Hof, das ungepflegte Gras und Pirštinė, die sich über das Gurkenbeet beugte. Ich torkelte auf den Hof hinaus, legte mich auf die harte Bank und nickte wieder ein; auch Nachbar Jakovas hatte sich dort bereits zu seinem Mittagsschläfchen niedergelegt.
Als ich wieder erwachte, war es noch nicht dunkel, aber es herrschte schon eine abendliche Stimmung wie in dem romantischen Gedicht von Maironis »Abend auf dem Vierwaldstätter See«. Jemand hatte mir eine große Tasse Tee gebracht, und ich wusste, was das für ein Tee war: Er kam aus Hamburg, hieß »Cliffield tea«, stammte angeblich aus Ceylon, und auf der weißen Packung war ein blaues Segelschiff abgebildet, doch war ich mir ziemlich sicher, dass es nicht die Teeblätter transportierte. Ich wusste, wer die Tasse gebracht und zwischen den Wegerichblättern auf den Boden gestellt hatte, denn ich gab immer großzügig »Teegeld«; in Žvėrynas hat sich dieser Brauch seit Čechovs Zeiten gehalten, obwohl der große Dichter Čechov nie in Žvėrynas gewesen ist. Selbst schuld, sicher hätten ihm der gesunde Kiefernwald und die Datschen gefallen, überhaupt das ganze zaristisch-kleinstädtische »Zverinec« mit seinen Holzhäusern; nach Užupis hätte er dagegen bestimmt keinen Fuß gesetzt. Auch Turgenev hätte sich hier wohl gefühlt, Gercen und Dobroljubov bestimmt auch, denn im Grunde ihres Herzens waren sie ehrbare Adlige und Kleinstädter und liebten ihr russisches Zarenreich und damit auch Žvėrynas mit schmerzlicher Inbrunst.
Ich würde noch ein wenig an meinem Tee nippen, und vielleicht würde es mir auch gelingen, über den Abend in Žvėrynas auf dem Vierwaldstätter See zu berichten. Ja, vielleicht würde es mir gelingen.
Ein ausgelaugtes, aufgedunsenes und zu einem weichen Lappen zerkochtes Teeblatt schwappte zusammen mit einem kleinen Schluck des schwarzen Getränks in meine Mundöffnung, schlüpfte am Gaumen vorbei, stürzte unwiederbringlich in meinen Schlund und stieß schließlich in der vollständigen Finsternis meines Magens auf Grund. Ein schwarzes, weiches Blatt, in Ceylon gewachsen und um die halbe Welt bis zu meinen Lippen gereist, wenn auch kaum mit diesem blauen Segelschiff, ein kleines Teeblatt, das möglicherweise den Keim einer tropischen Infektionskrankheit in sich trug. Zum Beispiel Amok? Der trat in einem von hundertdreiundzwanzigtausend Fällen auf, nur nicht bei Zigeunern, denn die hatten im Laufe der Jahrhunderte Immunität erworben. Juden und Polen erwischte der Amok dafür umso häufiger, und als Allerletzte wurden auch die Litauer Opfer der Raserei, und daran waren weder Ceylon noch Indien schuld. Ich selbst genoss lange Zeit aufgrund meiner Armut, meiner Enthaltsamkeit und meines guten Willens Schutz, und darum blieb ich auch diesmal unbeschadet mit meiner Tasse Tee unter dem alten Flieder sitzen; die Bildungskommission garantierte mir dieselbe Immunität wie den Zigeunern, und darum konnte ich in aller Ruhe diesen Abend auf dem Vierwaldstätter See genießen, obwohl ich regelrecht spürte, wie ein Amokerreger in meinem Körper umhertrieb.
Ich blieb also gesund, aber meine arme Nabė kam plötzlich von irgendwoher gestürzt und wand sich neben mir inmitten der Schwertlilien, Disteln, Sumpfdotterblumen und Hundskamille. Sie hatte jede Menge Relanium, Elanium, Tisercin und Brom geschluckt und Rizinusöl, Wermut und lauwarmes Wasser mit Soda hinterhergespült, und nun reinigte sich der Körper der Unglücklichen von all den Tranquilizern, dem Amok und der Hoffnungslosigkeit: Aus allen Öffnungen und Spalten ihres flachen Körpers quollen Schaum, Geifer und bitterer Schweiß hervor, und ihre Chancen standen nicht gut, aber es gab sie noch.
Ich stand wie angewurzelt da und bewunderte ihre Grazie und ihre vornehme Hoffnungslosigkeit, während die Ärmste irgendetwas Unartikuliertes ohne Versmaß lallte, wie eine Hafenhure lachte und biedermeierliche Repliken von sich gab. Ich schreckte davor zurück, an sie heranzutreten und sie zu berühren, denn der Erreger waberte überall in der Luft herum, also setzte ich mich stattdessen auf einen Klotz neben dem Holzschuppen, und die Teetasse schlug gegen meine Zähne, obwohl es nicht kalt war. Aus Nabės Mund quollen Flüche in die Pfütze, in den Flieder und in die Blumen, und mit ihnen stürzten Wassermolche und Kröten heraus, die durch den Beifuß und die Hanfpflanzen krochen. Dann öffneten sich Nabės Poren, und gelbe Wespen und grüne Schmeißfliegen stürzten sich auf den hervorquellenden salzigen, dampfenden Höllenschweiß. Nabė läuterte sich und wurde heiterer, und die Welt glaubte zwar weder ihr noch ihren Poetismen und ihrer Infantilität, gewährte ihr aber die Gelegenheit, sich zu reinigen. Als sich aber schließlich aus ihrem Körper eine große schwarze Katze absonderte und mit einem Satz in den niedrig hängenden Wolken verschwand, zitterte mir die Tasse in den Händen, doch Nabė seufzte auf und fiel in sich zusammen wie der dünne Luftschlauch eines Sportrads СКАЧАТЬ