Название: Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons
Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Literatur aus Litauen
isbn: 9783898968560
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Ha, da blieb so eine Klapperkiste stehen, ein uraltes Motorrad der Marke »Ižas«, ein vorsintflutliches Gefährt mit einem Beiwagen; nur sehr arme Leute fuhren noch mit solchen Dingern. »Wohin musst du denn, du armer Kerl?«, fragte der alte Fahrer mit Lederhelm und riesiger Brille. Der Helm war abgewetzt, die Brillengläser hatten einen Sprung, alles roch nach Leder und Stall und machte nicht gerade den besten Eindruck, aber er war, wenn auch aus Suvalkija, hundertprozentig ein guter Mensch, nicht wie dieser Kolchosevorsteher Abrutis aus der Gegend von Vilkaviškis. Im kalten Herbst des Jahres 1966 wurden wir Germanistikstudenten aus dem ersten Semester mit dem Lastwagen herangekarrt, um in Abrutis’ Arbeitseinheit Frondienste zu verrichteten, und schon von der Glasveranda herab begrüßte er uns mit den Worten: »Wie ihr arbeitet, so werdet ihr essen, denkt dran! Hier ist Suvalkija, und da bindet man die Schweine gut fest und gibt selbst das Wasser nur gegen Geld her!«
Abrutis konnte auch gut und herzlich, ja sogar romantisch sein, aber meistens zeigte er sich von seiner jähzornigen und barschen Seite; damals wusste ich noch nicht, dass »Abruti« auf französisch »Dummkopf« bedeutet. Die Schweine band man ordentlich fest, das stimmte, aber Wasser durften wir umsonst schöpfen. Die Mädchen schloss dieser Abrutis nachts in den Club der Kolchose ein, und mich und den Lehrer Leonardas, der erst seit drei Jahren seinen akademischen Frondienst leistete, legte er in den Flur. »Und versucht nicht, durchs Fenster zu steigen, sonst schieße ich«, drohte er zornig. »Die Mädchen haben auszuschlafen, hier wird gearbeitet!« Und kaum hatte Abrutis einen Blick auf Leonardas geworfen, beleidigte er ihn auch schon in Gegenwart der Mädels: »Was für einen Priesteramtskandidaten habt ihr mir denn da angeschleppt?«
Der damals noch junge Professor Leonardas errötete stärker als Vater und Tochter Lelešius zusammen, und selbst seine Haare leuchteten wie Feuer. Er war praktisch einen Meter kleiner als Abrutis und wurde niemals laut, nicht einmal, als man aus Anlass des Abschlusses des ersten Studienjahrs zum Fotografen ging und ihm der jüdische Fotograf mit den Worten die Brille abnahm: »Ohne die siehst du besser aus, mein Junge!«
Und als ich mich unbequem auf dem kleinen Beiwagen eingerichtet hatte und wir mit etwa fünfundzwanzig Sachen über die Landstraße tuckerten, erzählte ich eher mir selbst als dem halbtauben Fahrer der »Ižas«: »Und dann verliebte sich dieses Rindvieh von Abrutis wie verrückt in unsere Jahrgangskünstlerin Vigilija Jurkutė. Er hofierte sie wie ein alexandrinischer Scheich seine Lieblingsfrau, teilte ihr die leichtesten Arbeiten zu, kaufte ihr Bernstein mit für die Ewigkeit eingeschlossenen Insekten, und an den Wochenenden nahm er sie sogar mit seinem Planwagen zu den Künstlern am Theater von Marijampolė mit und spendierte ihr süßen Likör, aber Vigilija gab nicht nach. Eine derart sklavisch-ritterliche Aufmerksamkeit schmeichelte gewiss ihrer Selbstverliebtheit, doch blieb sie Melpomene treu.
Als die Erde gefroren war, aber noch kein Schnee lag und in den Stoppelfeldern der Wind auf Suvalkisch pfiff, setzte sich Abrutis mit einem neuen Anzug in seinen Volga, düste in die Alma mater und riss Vigilija fast schon mit Gewalt aus einem Gotischseminar heraus. Er fuhr mit ihr in das Restaurant »Vilnius« und bestellte Soufflé, Hühnchen und Sekt, aber es klappte immer noch nicht. Vigilija war ehrlich aufgewühlt, rang die Hände, und der in Bernstein eingeschlossene Käfer tanzte wie lebendig in dem nicht sehr tiefen Ausschnitt ihres züchtigen Kleidchens, doch auf alle ritterlichen Angebote und Versprechungen, wie ein Dienstmädchen, das Frühstück ans Bett oder die Rolle der »Jeanne d’Arc« auf der Bühne von Marijampolė, antwortete sie ruhig, aber klar und bestimmt: »Versteh doch, Kazimieras … Es geht nicht. Ich kann mir ein Leben außerhalb der Hauptstadt nicht vorstellen. Hier ist das ›Akademinis dramos teatras‹ …«
Abrutis, dieser elende Schuft, ging direkt aus dem Restaurant zu Vancevičius und bot zehntausend Rubel für die Rolle der Maria Stuart für Vigilija, doch der Alte gab nicht nach, obwohl er den Vorsteher für sein forsches Vorgehen lobte. Als Abrutis wieder in das Restaurant zurückkehrte, fand er Vigilija nicht mehr vor. Zuerst hatte er ernsthaft vor, sich die Kugel zu geben, aber da er zu geizig war, eine Kugel zu opfern, suchte er den jungen Professor Leonardas auf, entschuldigte sich für den »Priesteramtskandidaten«, türmte auf dem Tisch Schinken, Würste und Schnaps auf und fragte, bereits angeheitert: »Hör mal, mein lieber Leonardas, was wollen die Weiber eigentlich noch alles?«
Leonardas war ein feinfühliger Mensch. Er versuchte mit sanften Worten, dem Unglücklichen Vigilija auszureden, und riet ihm, sie nicht mehr zu umwerben. »In Ihrem Dorf finden Sie bestimmt eine, die viel besser zu Ihnen passt, Kazimieras!«
Zuerst hätte Abrutis Leonardas für diese Worte fast erwürgt, aber schließlich verrauchte sein Zorn: »Du, irgendwie hast du wohl auch Recht, du alter Schlauberger. Ich weiß nicht, was mich geritten hat. So ein spindeldürres Ding, keine Titten, kein Arsch, und ich habe mich aufgeführt wie der letzte Vollidiot.«
Leonardas wurde wieder knallrot über eine so vulgäre Charakterisierung dieser eifrigen Studentin, und ungefähr fünfzehn Jahre später erzählte er mir: »Stell dir vor, Abrutis überschrieb seinen Volga Vigilija und wollte zu Fuß nach Antanavas gehen, um ein neues Leben zu beginnen. ›Von Null an‹, das war seine Rede. Ich überredete ihn, mit dem Zug zu fahren, und begleitete ihn zum Bahnhof. Im Obus herrschte fürchterliches Gedrängel, und dann stieg auch noch so eine Russin mit vollen Taschen ein, drängelte nach vorne und rief auf Russisch: ›Rückt gefälligst, ihr Idioten, hier ist noch genug Platz!‹ Da donnerte Abrutis, noch verkatert und wütend wie ein Bulle auf Russisch zurück: ›Verdammt noch mal, hier ist überhaupt kein Platz für solche XXX wie dich. Wir sind hier doch nicht in Rjazan’!‹ Mit einem Mal verstummte der ganze tschechische ›Škoda‹-Salon, aber nichts geschah …«
Diese Erinnerungen stiegen wieder in mir empor, als die brettebenen Felder von Suvalkija an mir vorbeizogen wie in einem langsam ablaufenden Film. Ich erzählte diese Geschichten eher mir selbst als dem nicht nur fast tauben, sondern auch noch halbblinden Motorradfahrer Petrošius. Dreimal stürzten wir, aber wir rappelten uns jedes Mal unbeschadet wieder auf. Petrošius kannte alle Leute in Kazlų Rūda, und Lelešius kannte er sogar sehr gut: »Das ist ein alter Bekannter von mir. So ein unglücklicher Mensch!«
Als wir herangeknattert kamen, war es schon ganz dunkel. Der Vollmond war verhangen, doch sämtliche Fenster des Lelešius’schen Hauses waren bereits strahlend hell erleuchtet, und neben den berühmten Pflaumenbäumen glänzte dunkel der schwarze Opel dieses Schnösels, der keine Leute ohne Schuhe hatte befördern wollen.
»Aha!«, sagte Petrošius beinahe feierlich. »Petručijo ist also auch da! Wenn er betrunken ist, nimm dich in Acht! Reiz ihn nicht!«
»Ich will versuchen, ihn nicht zu reizen«, antwortete ich und klopfte laut an das weiße Doppeltor von Lelešius. Als Bul Bul mich erblickte, war sie nicht im Mindesten erstaunt, aber Lelešius freute sich: »Ich kriege heute gleich zwei Schwiegersöhne, ha ha.«
Petručijo musterte mich, den Mann ohne Schuhe, drohend, als wolle er sagen: »Mit der einen Hand lege ich dich um, mit der anderen schlage ich dich nieder«, versuchte aber zugleich, sich bei Marija Lelešiūtė lieb Kind zu machen; ich hatte ja schon seinerzeit bei Abrutis erlebt, wie Gefühle selbst Rindviecher seines Schlages in Kälber verwandeln können! Auf alle Befehle von Bul Bul antwortete der Knabe nur mit »jawoll!«
»Sofort entschuldigst du dich bei dem Herrn!«
»Jawoll!«
»Gib ihm die Latschen von Papa!«
»Jawoll!«
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