Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2 - Rudolf Walther страница 9

Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783941895843

isbn:

СКАЧАТЬ Naserümpfen und der billige Spott Spätgeborener, die in den Begriffen »engagement« und »littérature engagée« nur noch eine Ideologie zu sehen vermögen, verkennen die ursprüngliche Absicht. Es ging Sartre, von kurzen Phasen abgesehen, gerade nicht um Ideologien oder Post-Ideologien, sondern um die Individuen: »Wir wollen, dass der Mensch und der Künstler ihr Wohl gemeinsam gestalten, dass das Kunstwerk gleichzeitig Handlung sei; dass das Kunstwerk explizit als Waffe im Kampf, den die Menschen gegen das Böse führen, begriffen werde.« Zur spezifischen Modernität gehört auch, dass sich die Zeitschrift – wesentlich dank Simone de Beauvoir – seit 1948 kontinuierlich mit Fragen des Feminismus und des Sexismus befasste.

      Ein weiteres Markenzeichen von »Les Temps modernes« waren die Schwerpunkthefte zu einzelnen Ländern, wobei die Autoren in der Regel aus den Ländern selbst kamen. Das gilt bereits für die ersten Ländernummern über die USA und die eben gegründete BRD (Herbst 1949 mit Beiträgen von Wolfgang Borchert, Wolfdietrich Schnurre, Eugen Kogon und anderen). Dreißig Jahre später folgte eine weitere Deutschland-Nummer (Autoren: Peter Brückner, Dirk Ipsen, Klaus Wagenbach, Sebastian Cobler und andere).

      Das durch solide Arbeit und radikales Nachdenken, nicht durch modische Anpassung erreichte weltweite Renommee der Zeitschrift stand in keinem Verhältnis zur Höhe der Auflage. Diese lag nie über 10 000 Exemplaren und dürfte momentan bei 4000 liegen. Die eben publizierte Jubiläumsnummer schlägt einen Bogen von Jacques Derrida, der philosophisch und politisch zu Sartre wie zur Zeitschrift immer Distanz hielt, bis zu Interviews mit Francis Jeanson, der in der Kampagne gegen den Algerien-Krieg eine wichtige Rolle spielte, und Lionel Jospin, dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten, der die Zeitschrift als Student las, aber seither wohl nicht mehr. Der schönste Beitrag mit dem Titel »Jeder Feind Sartres ist ein Hund« stammt vom Mitglied der Académie Française und »Le Monde«-Kolumnisten Bertrand Poirot-Delpech. Er zeigt nochmals, zu welcher Niedertracht gegen Sartre die »leitartikelnde Bourgeoisie« von den vierziger bis in die siebziger Jahre fähig war, und erinnert an seine eigenen Motive, als Student »Les Temps modernes« zu lesen: »Weil ein frischer Wind durch die Seiten pfiff«, weil es dort keine »unter dem Staub der Höflichkeiten der alten Zeitschriften begrabenen Feingeister« mehr gab.

      Von gescheiterten Revolten und Aufständen bleibt in der Regel nichts übrig als fortschreitend verblassende Erinnerungen – im Ausnahmefall heroisierende Legenden. Die fünf toten Studenten vom Mai ’68 sind in Frankreich längst so vergessen wie die mehreren hundert in Mexiko. Gedenksteine und Denkmäler für diese Opfer liegen nirgends drin. Die Niederlage der Protestbewegung (»contestation«) war umfassend – in Frankreich und weltweit.

      Trotzdem ist von der Studentenbewegung dauerhaft mehr übrig geblieben als verblassende Erinnerungen. Das ist am überzeugendsten daran abzulesen, mit welcher Verbissenheit bis heute fast jedes gesellschaftliche Defizit von der Jugendkriminalität bis zur sinkenden Geburtenrate als direkte oder indirekte Folge des Antiautoritarismus, Hedonismus oder Antiinstitutionalismus von ’68 »erklärt« wird. Als in der ex-DDR und im Westteil des Landes die Wohnungen von Ausländern brannten, sah ein westdeutscher Professor darin – fast schon gewohnheitsmäßig – eine Spätfolge der Studentenbewegung: Insbesondere der später selbst kravattierte Teil der 68er halluziniert mittlerweile tote Ausländer als »logische« Quittung für die damals erworbene Distanz zu Nationen und nationalem Klimbim.

      Kein Ressentiment ist zu bieder und kein Räsonnement zu platt, um nicht auf diese oder jene Weise mit der 68er Bewegung verbunden zu werden. 68er für irgendetwas zu denunzieren, ist zum Gesellschaftsspiel geworden: Der eine erklärt Ernst Jünger zum Hauspoeten der 68er, und für den anderen sind diese die Erfinder des schlechten Geschmacks.

      Das Jubiläumsjahr hat den Markt für solche Spielchen belebt. Eine Kritik dieser Unternehmen lohnt sich nicht. Hier soll deshalb versucht werden – gegen die verblassenden Erinnerungen – darzustellen, wie es historisch (ungefähr) gewesen ist im Mai ’68 in Frankreich.

      In seinem berühmten Artikel vom 15. März 1968 beklagte der Journalist Pierre Viansson-Ponté, dass »sich Frankreich langweile«. In der langen Liste von Indizien für diese Prognose steht auch ein Vergleich französischer mit den Studenten anderswo: Weltweit prügelten sie sich mit der Polizei, während es den Studenten in Nanterre und Nantes noch um den unbehinderten wechselseitigen Zugang zu den nach Geschlechtern getrennten Wohnheimen ging. Die Staatsmacht verteidigte die Bevormundung mit dem angeblich von den Eltern an sie delegierten Erziehungsauftrag, wonach »wir« – Alain Peyrefitte als Erziehungsminister – »nicht erlauben können, dass sich minderjährige Mädchen zu den Jungen begeben oder diese empfangen«. Genau bis ’68 mochte man den Staat in solcher Pose.

      Die Sache mit der Langeweile war übertrieben: Es gab auch in Frankreich Proteste gegen den Vietnamkrieg und bereits am 17. Mai 1967 einen Generalstreik gegen ein Vorhaben, mit dem sich die Regierung die Sondervollmacht aneignete, Gesetze auf dem Weg der bloßen Verordnung – also am Parlament vorbei – zu erlassen. Für die älteren unter den herausragenden Figuren in der Studentenbewegung waren es im Übrigen der Algerienkrieg und die Proteste dagegen, in denen sie als Mitglieder von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen politisiert wurden und nicht erst im Mai ’68. Das gilt für Alain Geismar, Jacques Sauvageot, Alain Krivine, Jean-Louis Péninou und Marc Kravetz (»Der Algerienkrieg ist schlicht das Ereignis, das den französischen Bruch am klarsten markiert ... Es ist das Ende dieser großen kolonialen Epoche, die nie großartig gewesen ist«).

      Der Mai ’68 kam also nicht aus heiterem Himmel. Das trifft insbesondere für dessen intellektuelle Ausstattung und politische Orientierung zu. Die Studentenbewegung hat ihre politischen Wurzeln in kleinen Gruppen von »Neuen Linken«, die sich um vier Zeitschriften mit Auflagen um je 4000 Exemplaren herum gruppierten. Diese kleine, aber intellektuell fruchtbare »Neue Linke« stand in einer doppelten Frontstellung: gegen den Stalinismus und den bürokratisierten Staatssozialismus und gegen den Kapitalismus und die Einreihung Frankreichs hinter die westliche Supermacht: »Es stimmt nicht, dass die Politik der Blöcke der einzige Weg ist, den man den Menschen zeigen kann« – so ein Aufruf des »Rassemblement démocratique révolutionnaire« von Jean-Paul Sartre und David Rousset 1948. Die antistalinistische »Neue Linke« formierte sich in Frankreich bereits Ende der 40er Jahre um die Zeitschriften »Les Temps modernes« (seit 1945) und »Socialisme ou Barbarie« (1949-66), später auch »Arguments« (1956-1962) und »Internationale Situationniste« (1958-1969).

      Der Einfluss der maßgeblich von Jean-Paul Sartre bestimmten »Les Temps modernes« auf die französischen Intellektuellen kann – trotz aller politischen Wendemanöver Sartres – überhaupt nicht überschätzt werden. Das gilt für die Literatur ebenso wie für Philosophie und Politik. Mit Cornelius Castoriadis und Claude Lefort sammelten sich um die Zeitschrift »Socialisme ou Barbarie« Trotzkisten unterschiedlicher Richtung. Ihre Kritik war nach eigener Terminologie »radikale Systemkritik« und umfasste nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern alle gesellschaftlichen Verhältnisse vom Alltag über die Erziehung bis zur Familie und zur Sexualität. Politisch verstanden sie sich als libertär, antistalinistisch, bürokratiekritisch und antikapitalistisch sowieso. Castoriadis kritisierte die Marxsche Perspektive, wonach es darum gehe, die Spaltung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu überwinden. Er rückte Probleme der ungleichen Verteilung in den Hintergrund und die Frage der »Entfremdung« zwischen »Führenden und Ausführenden« in den Vordergrund. Die daraus abgeleitete Idee »der Arbeitermacht« (»gestion ouvrière«) kriegte im Mai ’68 unter den Bezeichnungen »autogestion« / »Arbeiterselbstverwaltung« und »émancipation« / »Befreiung« einen ungeheuren Schwung durch die kurzfristige Koalition von Studentenund Arbeiterbewegung. Die KPF und der kommunistische Gewerkschaftsverband CGT wurden von der Wucht der in den Betrieben bei Streiks, Demonstrationen und Besetzungen zündenden Idee überrollt.

      In der Zeitschrift »Arguments« (1956-1962) entfalteten Intellektuelle verschiedener Herkunft – darunter Edgar Morin, Henri Lefebvre, СКАЧАТЬ