Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895843

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СКАЧАТЬ Prachtblüten sind im Folgenden zu besichtigen.

      Was schlüsselte uns die »Informationsgesellschaft« besser auf als deren Verkleidung als »keyboard society«? Damit wissen wir zwar immer noch nicht, was das Getriebe zusammenhält und wovon wir Keyboarder leben, aber der Society-Designer Norbert Bolz hat den Durchblick: »Man trifft nur noch auf Benutzeroberflächen«. Die aufklärerische Warnung, Menschen niemals als Mittel zu betrachten, ist vom Tisch. In der »keyboard society« sind wir uns selbst und allen anderen gegenüber gleichberechtigte »Tasten« oder »Benutzeroberflächen«. Das Zeitalter »reflexiver Modernisierung«, das man uns ausmalt, fordert seinen Eintrittspreis. Offenbacher Professoren der Hochschule für Gestaltung trieben es bunter beim Fischen im Trüben. Sie angelten die Idee der »Schnittstellengesellschaft« von der Festplatte. Allerdings ist diese Gesellschaft vorerst mehr Wunsch denn Realität; der »Schnittstellengesellschafter« soll »schräg denken und handeln«. Warum hat man sie nicht gleich »Gesellschaft« oder »backslash society« genannt – kürzer, prägnanter und weniger deutsch, international verwertbar? Hinreißend fanden wir auf Anhieb die »ruderale Trittgesellschaft«, aber die Rückfrage bei einer kundigen Biologin klärte uns darüber auf, dass es sich dabei nicht um ein Pflänzchen aus dem Soziologengarten handelt, sondern um einen wissenschaftlichen Terminus aus dem Bereich der Geobotanik. Schade.

      Besonderer Beliebtheit erfreute sich die »Zivilgesellschaft«. Die unbegriffene Gegenwart sollte gebannt werden im begriffslosen Wort. Kritisch gesehen war die »Zivilgesellschaft« eine Totgeburt, nur die Hebammen und Geburtshelfer wollten es nicht glauben und versuchten verzweifelt, dem Konzept Leben einzuhauchen.

      Zur Herkunft: Mit einer Hand schöpfte man aus der amerikanischen Debatte um Autoren wie Charles Taylor, Michael Walzer und anderen über die Rekonstruktion der »civil society« angesichts von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Trends in der US-Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Die als »communitarians« / »Gemeinschafter« bezeichneten Autoren erarbeiteten für die von Gesellschaftsauflösung bedrohten amerikanischen Zustände Rezepte, um das demokratische Gemeinwesen wiederzubeleben. Alte und neue normative Begriffe sind ihnen deshalb wichtiger als die Analyse der Gesellschaft. Mit der anderen Hand holte man sich die Argumente aus den Debatten unter Dissidenten im Osten, wo eine offene Gesellschaft erst aufgebaut werden sollte nach dem Untergang von Parteiherrschaft und Staatssozialismus. Die kommunistische Herrschaft akzeptierte – wie die Baronin Thatcher – nur Staat und Individuum. Die beiden Debattenstränge haben nur wenig gemeinsam und orientieren sich an grundsätzlich verschiedenen Verhältnissen, Problemen und Zielen. Die eilfertige Übernahme des Diskurs-Jetons »Zivilgesellschaft« war deshalb von Anfang an höchst problematisch. Obendrein spielten reale Interessengegensätze und wirtschaftlich-kapitalistische Zwänge, auf die jede Demokratisierung aufläuft, in der hochgradig ideologisierten deutschen Debatte praktisch keine Rolle.

      Erst recht zum Rohrkrepierer wurden die historischen Anleihen, mit denen die Diskussion aufgepeppt werden sollte. Schon die Übersetzung von »civil society« mit »Zivilgesellschaft« ließ mehr schlechten Geschmack als historische Bildung erkennen. Wer käme auf die Idee, analog dazu, das »bellum civile« / »Bürgerkrieg« mit »Zivilkrieg« wiederzugeben? Drall-Deutschen fiel auch noch das Wort »Zivilheit« ein, obwohl das unübersetzbare italienische »civiltá« von seinem realen Kern »civis« / »Bürger« natürlich nicht abzutrennen, sondern nur im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext einzulösen ist.

      Alle Versuche, der »Zivilgesellschaft« mit dem Hinweis auf den alten Begriff »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« höhere Weihen anzudienen, scheitern an dem schlichten Tatbestand, dass die alte »societas civilis« bzw. »politiké koinonía« von Aristoteles bis zur Französischen Revolution mit der modernen Gesellschaft gar nicht, mit den zwischen Antike und Ancien Regime entstandenen diversen Staatsformen jedoch sehr eng zusammenhängt. Vereinfacht gesagt: Bis dahin war die »bürgerliche Gesellschaft« die Vereinigung der rechts- und politikfähigen Männer, virtuell der »Staat«. Soweit »Zivilgesellschaft« also auf die vorrevolutionäre »societas civilis« / »bürgerliche Gesellschaft« zielt und dort staatsfreie Räume ausmachen möchte, ist das Konzept nichts weiter als eine Projektion. Da taugt auch der Hinweis auf Adam Fergusons »Essay on the History of Civil Society« (1767) nichts, weil »civil society« dort fast durchweg den Staat meint und nur ganz selten auch das, was heute bürgerliche Gesellschaft heißt.

      Mit der historischen Situation, in der die Debatte hier begann, hängen ihre politischen Implikationen zusammen. Der Chip »Zivilgesellschaft« diente Protagonisten mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen theoretischen Vorstellungen als Krücke. Die einen brauchten diese, um sich von ihren ehedem sozialistischen Vorstellungen ins Post-Stübchen westlicher Gemütlichkeit verabschieden zu können, weil sie nach 1989 mit jenen Vorstellungen nichts mehr zu tun haben wollten. Andere benützten die Krücke, um ihre überkommenen Vorstellungen kundenfreundlich aufzupolieren und sprachen vom »zivilgesellschaftlichen Sozialismus«, der nun an die Stelle des abgehalfterten zu treten habe.

      Die gesellschaftlichen Realitäten und die ihnen täglich entweichende Gewalt haben das Konzept »Zivilgesellschaft« nun in den Orkus befördert.

      Dass wir als Tote Gleiche sind, darf nicht verlängert werden zur Vorstellung, dass jeder Tod gleich sei. Ein Skandal ist, wie Elias Canetti meint, jeder Tod. Aber das setzt Hingeschlachtete noch lange nicht gleich mit den – wie es heißt – »im Krieg Gefallenen«, und sei es als »Verteidiger« Gefallene. Für die meisten Kriege und für alle Bürgerkriege ist die Unterscheidung von – militärisch verstandenen – Angreifern und Verteidigern so ideologisch borniert wie jene zwischen guten und schlechten Nationalisten, guten und schlechten Faschisten, guten und schlechten Stalinisten oder guten und schlechten Nationalsozialisten. Es mag der zum Kriegsdienst eingezogene Landser so schuldlos sein wie nur denkbar, sein Tod ist nicht identisch mit jenem von generalstabsmäßig oder durch marodierende Soldatenhaufen ermordeten Zivili sten.

      Und dass ein Gewehr ein Gewehr bleibt, unabhängig davon, wozu es gebraucht wird, darf nicht zur Vorstellung werden, dass jede Gewaltanwendung gleich sei. Pazifismus bedeutet nicht Gewaltlosigkeit à tout prix. Konsequenter Pazifismus muss Gewalt in Kauf nehmen – allerdings in klar bestimmten Relationen von politischen Zielen und Mitteln, in kalkulierbarer militärisch-politischer und humaner Verhältnismäßigkeit.

      In welcher Relation politische Ziele, verwendbare Mittelarsenale und humane Verhältnismäßigkeit in der Konstellation des Bürgerkriegs auf dem Balkan stehen, hat bislang niemand klar dargelegt – weder von politischer noch von militärischer Seite. Von alldem unberührt zeigen sich berufsmäßig Alarmierte. Politiker und Talker mit Flair fürs notorisch Falsche (»jetzt oder nie«) sowie fürs historisch Schiefe wie dem Vergleich der Belagerung bosnischer Städte durch die serbische Soldateska mit der nationalsozialistischen Vernichtung des Warschauer Ghettos. Selbst wenn der alternde Marek Edelmann solche Vergleiche anstellt, werden sie nicht stichhaltiger.

      Die vom Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Menschen benötigen vieles. Am entbehrlichsten sind Aufrufe. Den bedrängten und bedrohten Menschen hilft man nicht mit Aufrufen, sondern mit der Organisation von Hilfe, mit der Aufnahme von Flüchtlingen und mit der Mobilisierung der hiesigen Bevölkerung gegen die Regierungspolitik (zunächst des forschen Anerkennens, dann des allzu langen Abwartens). Rechtzeitige militärische Ultimaten, kombiniert mit einer intelligenten Einbindung der Medien, wie sie der französische General Morillon auf dem Balkan pflegte, haben den Menschen mehr und wirksamer geholfen als die Entrüstungsrituale hierzulande. Dagegen stumpfen die dramatisierenden, brutale Bilder des Fernsehens noch überbietenden Parolen in der Presse (»Völkermord«, »Genozid«, »Warschauer Ghetto«) nur ab und bieten keinerlei Aufklärung über Krieg und Bürgerkrieg.

      Was für ein Bild der Zustände haben in den letzten Wochen die Medien vermittelt? Aus trüben, restlos unüberprüfbaren Quellen kam die Meldung von Tausenden von Ermordeten in Gorazde (»von Leichen СКАЧАТЬ