Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895843

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СКАЧАТЬ sei. Preisgegeben? Wer wen? Dass Teile der Armee sich keiner bis jetzt bekannt gewordener Verbrechen schuldig gemacht haben, ändert natürlich gar nichts an der wissenschaftlich erhärteten Tatsache, dass zwischen Hitlers Herrschaft und dem ganz überwiegenden Teil der Wehrmachtführung kein Haar Platz hatte. Der mainstream arrangierte sich nach unwesentlichen Reibungen zu Beginn bestens mit dem Gefreiten als neuem Chef. Der Widerstand war ehrenwert, aber doch bescheiden.

      Weil der Widerstand so minimal war, versuchen Pfiffige immer wieder den Umweg über den »nationalen Verrat«. Wie allerdings die tonangebende »nationale Opposition« (wie NSDAP und Deutschnationale sich nannten), die im Juli 1932 fast 45 % der Stimmen erreichte, ausgerechnet »nationalen Verrat« begehen sollte (an sich selbst?), nachdem sie im Januar 1933 an die Macht gekommen war und unter dem Beifall einer nicht mehr messbaren, aber auf jeden Fall deutlichen Mehrheit Deutschland zügig deutscher machte, bleibt ein Geheimnis. Im Detail liegt B. Seebacher-B. fernab von Tatsachen und behauptet z. B., sozialdemokratische Opfer des Terrors fehlten in »jeder Aufzählung«. Das Gegenteil ist richtig: Jedes halbwegs anständige Buch über die Naziherrschaft enthält detaillierte Angaben – verleugnet oder vergessen werden da schon eher andere (Sinti, Roma, Russen, Polen, Kommunisten und Schwule).

      Schon vor derlei Proseminar-Kapriolen stürzte die Rednerin ins Bodenlose, wie jeder, der noch glaubt, mit der Nation festen Boden zu betreten: »Aber zu gedenken ist – aller Opfer, die in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebracht wurden«. Wem hat zunächst die kaiserliche Armee, dann die Wehrmacht welche denkwürdigen »Opfer gebracht«? Die jetzt zu erwartende erneute historische Revision, dieses Mal unter dem Banner der »Ideen von 1989« kündigt sich einigermaßen flott an mit der Umwidmung deutscher Angriffskriege zum Opfergang. Genau diesen Verdacht hatten wir immer schon bei den Veranstaltungen unter der Firma »Volkstrauertag«. Es ging nie um die wirklichen Opfer, weder um die eigenen und schon gar nicht um die fremden, sondern um ein staatliches Trauertheater, in dem die Niederlagen in zwei selbst provozierten Kriegen »zustimmungs- und gemeinsinnsfähig« (Lübbe) inszeniert wurden. Und weil man an Niederlagen ungern einfach als Niederlagen erinnern mochte, wählte man namenlose Opfer als Staatsfeierstunden-Dekoration. Diese kann man – Schützen und Erschossene amalgamierend wie in der verlogenen, seit 1969 offiziellen Formel von den »Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« – risikolos als die »in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebrachten Opfer« instrumentalisieren. Das erklärt auch die von B. Seebacher-B. pompös als Ouvertüre präsentierte Fanfare von der Einzigartigkeit der Veranstaltung (»Kein anderes Volk der Welt hat sich je vorgenommen, an einem einzigen, regelmäßig wiederkehrenden Tag seine Toten zu betrauern«). Welcher andere (Nachfolger-)Staat muss einen ganz und einen maßgeblich verschuldeten Weltkrieg als Opfergang kaschieren?

      Verglichen mit den fünfzig Laufmetern, die die rot gebundenen Prachtbände der »Revue des deux mondes« im Magazin der Bibliothek beanspruchen, nehmen sich die zehn von »Les Temps modernes« bescheiden aus. Die berühmte »Revue« wurde 1829 im Geist des Positivismus gegen den »Systemgeist« (so die erste Nummer) gegründet und zählt seither die Eliten aus Wissenschaft, Kultur, Verwaltung und Politik zu ihren Autoren. Im Ehrenkomitee zu ihrem 150. Geburtstag saß 1979 auch Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing.

      Bei »Les Temps modernes« wäre derlei undenkbar. 1995 wurde die am 1. Oktober 1945 von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty, Michel Leiris, Jean Paulhan und Albert Ollivier gegründete Zeitschrift fünfzig Jahre alt. Mit dem Selbstbewusstsein einer wirklich unabhängigen Institution, schrieb der jetzige »directeur« – der Filmemacher Claude Lanzmann – im Editorial zur Jubiläumsnummer solche kalendarischen Zwänge als Kleingeisterei beiseite: »Seit langem schon macht die Verspätung gegenüber dem, was man so Aktualität nennt, unsere spezifische Modernität aus.« Das ist kein Understatement, sondern hat Tradition: Die Nummer 500 war kein Thema, aber 50 Nummern später lud die Redaktion ihre Leser erstmals in ihrer Geschichte zu einem Fest – das war vor vier Jahren. Zur spezifischen Modernität von »Les Temps modernes« gehört ihre intellektuelle Radikalität – ob es nun um Philosophie, Sozialwissenschaft und Politik oder Literatur, Kunst, Musik und Film geht.

      Die Radikalität wich nur in zwei Phasen einem tagespolitischen Konformismus: In den fünfziger Jahren, als sich Sartre vorübergehend dem Parteikommunismus näherte, und in den siebziger Jahren, als Pariser Nachwuchsintellektuelle die Zeitschrift zuerst durch ihren Maoismus und danach durch ihren seichten »Antitotalitarismus« kurzfristig in Verruf brachten. Wie Simone de Beauvoir berichtet, verdankt die Zeitschrift ihren Titel einem Zufall: Michel Leiris hatte »Le Grabuge« (Der Krach) vorgeschlagen, aber Sartre wollte das Organ mit dem Titel auf Zeitgenossenschaft festlegen. Im Laufe der Debatte kam man auf »Les Temps modernes«, die Anspielung auf Chaplins Meisterwerk war beabsichtigt. Picasso lieferte einen Entwurf für das Titelblatt. Aber ästhetische Gründe hätten es nicht erlaubt, darauf das Inhaltsverzeichnis jedes Heftes zu reproduzieren. Schließlich entschied man sich für den Entwurf eines Graphikers aus dem Verlagshaus Gallimard. Und bei dieser Gestaltung des Titelblatts blieb es, von kleinen typographischen Änderungen abgesehen – bis heute.

      Im Editorial zur ersten Nummer fasste Sartre den Menschen als »Zentrum nicht hintergehbarer Unbestimmtheit« und definierte als Ziel der Zeitschrift nicht etwa »die«, sondern bescheiden »eine Befreiung« des Menschen. Maurice Merleau-Ponty, der 1953 wegen politischer Differenzen mit Sartre aus dem Herausgeberkreis ausschied, formulierte in der vierten Nummer (1946) das philosophisch wie politisch Modernität verbürgende Motiv in einem einzigen, dauerhaft haltbaren Satz: »Es gibt nur noch beschädigte Ideen.« Bereits 1951 sahen Sartre und Merleau-Ponty im »System der Lager und der Zwangsarbeit« in der Sowjetunion »Fakten, die die Bedeutung des russischen Systems total in Frage stellen«. Sartre ließ sich von den Denkschablonen des Kalten Kriegs nicht beeindrucken: »Bevor ich für die Demokratie sterbe, möchte ich doch sicher sein, darin zu leben ... Weiß ich denn, wie sie in Algier, in Goa oder auch nur in Le Creusot funktioniert?« (1952)

      In der Zeitschrift erschien auch Merleau-Pontys epochaler, durch die geschichtliche Erfahrung von Stalinismus und Faschismus geprägter Essay über »Humanismus und Terror«. Er vermag die – altmodisch gesprochen – geistige Situation der Zeit präziser zu bestimmen als die buchhalterische Abrechnungsprosa, die nach 1989 erschienen ist. André Gorz, dem »Les Temps modernes« zwischen 1961 und 1983 die fundiertesten soziologischen, später auch ökosoziologischen Essays verdankt, bilanzierte 1970 den Pariser Mai und den Bildungsnotstand. »Die Universität zerstören« war sein Resümee, da keine Reform in der Lage sei, »diese Institution lebensfähig« zu machen. In seiner Abrechnung mit dem gemeinsamen Wahlprogramm von Sozialisten und Kommunisten vom 26. Juni 1972 kam er zu dem Ergebnis, dieses sei politisch defizitär und laufe nur auf die Forderung »Elektrifizierung ohne Sowjets« hinaus. Gorz formulierte die Kritik am Leninismus, als die wohlfeilen Traktate der vermeintlich »neuen Philosophen« noch nicht geschrieben waren.

      Über politische Probleme im engeren Sinne schrieb zunächst vor allem Jean Pouillon, Sartre artikulierte sich auf diesem Feld erst später. Pouillon plädierte für einen »befreienden Internationalismus ... durch die Absage an die Nationen«, und schon im Dezember 1946 kritisierte er den französischen Kolonialismus in Indochina und trat für Verhandlungen mit dem Viet Minh ein. Die Zeitschrift wurde dann in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem der wichtigsten Foren, in denen über Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus diskutiert wurde. Später formierte sich um dieses Organ herum auch der Protest der Intellektuellen gegen die Kriege und die Kriegsführung in Algerien und Vietnam sowie gegen Nationalismus und Fremdenhass.

      Michel Leiris öffnete dem Leser die Augen für die Völker Afrikas, deren Kultur und Literatur zu einem Zeitpunkt, als Eurozentrismus und abendländischer Zivilisationsdünkel noch zur intellektuellen Grundausstattung der Bildungsbürger gehörten. Horizonterweiternd waren auch die Reportagen Sartres und Simone de Beauvoirs über ihre Amerika-Reisen Ende der vierziger Jahre. Die Rezeption amerikanischer Kunst, Musik und Literatur wurde in Europa ebenso СКАЧАТЬ