Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895843

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СКАЧАТЬ Funksprüche wurden medial verstärkt. Als die Blauhelme endlich in die Stadt gelangen konnten, korrigierten sie die Opferzahlen zuerst auf 715 (Frankfurter Rundschau vom 26.4.94), dann auf 250 (Süddeutsche Zeitung vom 27.4.94). Das macht das Verbrechen der serbischen Soldateska zwar geringer, aber nicht tolerierbarer. Von höherer Warte erschallen die rechtfertigenden Gesänge: »Der britische UNO-General Rose ärgert sich über die bosnischen Muslime in Gorazde: Sie hätten die Zahl ihrer Toten und Verwundeten übertrieben ... In einer umzingelten Stadt breitet sich eine Psychose aus, die nach einer Weile auch zu verkehrten Vorstellungen über die Opfer in den eigenen Reihen führt; anders kann es nicht sein« (FAZ vom 29.4.93).

      Statt aufklärender und gegenüber allen Quellen kritischer Information boten die Medien Bürgerkriegs- beziehungsweise Kriegspropaganda. Sie lieferten damit der serbischen Seite das Rohmaterial für die Durchhalteparolen und die Behauptung frei Haus, die westlichen Medien hätten sich gegen Serbien zu einer mit allen Mitteln kämpfenden Front verschworen. Und beim hiesigen Leser und TV-Zuschauer erzeugt man mit solcher Nachrichtenzurüstung keine Solidarisierung und Mobilisierung, sondern allenfalls Ohnmacht und Resignation. Übertriebene Schreckensmeldungen sensibilisieren das Publikum nicht für das, was passiert ist, und das, was dagegen getan werden müsste – also forcierte Hilfe, Flüchtlingsaufnahme, Verhandlungen und kalkulierte Androhung militärischer Gewalt –, sondern entmutigen es. Erst recht seltsam berührt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die weit größeren Zahlen an Opfern in den Kriegen und Bürgerkriegen im Sudan, in Ruanda und anderswo nur kurzfristig in unsere Medien gelangen. Hängt dies damit zusammen, dass diese Schauplätze fernab Europas liegen, oder sollte für jene Opfer gar gelten, dass sie uns doch nur schwarze, ungleiche Tote sind?

      Geschichte ereignet sich zweimal – einmal als Tragödie, dann als Farce. Wird dieselbe Geschichte mehrfach erzählt, darf man sich wundern oder nach den Motiven fragen. Mit der Eröffnung der Neuen Wache als zentraler Gedenkstätte (»mies, medioker und provinziell«, Reinhart Koselleck) und einer Rede von B. Seebacher-B. zum Volkstrauertag werden die Bemühungen zur Begradigung der deutschen Geschichte erneut aufgenommen. So viel zum unausgesprochenen Teil der Motive. Der Rest spricht für sich selbst.

      E. Nolte schrieb 1986 einen Artikel (FAZ 6.6.86), der zusammen mit Arbeiten von A. Hillgruber, K. Hildebrand und M. Stürmer den Historikerstreit auslöste. Dass es dazu kam, ist allein das Verdienst von Jürgen Habermas, der schnell und entschieden auf »die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« reagierte (»Eine Art Schadensabwicklung«, Die Zeit 11.7.86). Nolte hatte mit dem Titel seines Beitrags die Marschrichtung angegeben: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Im Klartext: Wer verhindert, dass die Geschichte deutscher Verbrechen endlich mit der Geschichte und den Verbrechen anderer Staaten verrechnet werden kann? Ein historisches Clearing-Verfahren zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und jenen Stalins, Pol Pots etc. war angesagt. So frontal freilich stieg Nolte nicht ein, sondern wählte den aparten Weg über die Notwehr: Vor Auschwitz war der GULag, und deshalb handelten Hitler und seine Wehrmacht aus berechtigter Angst vor der »asiatischen Tat« präventiv, als die Sowjetunion überfallen und an und hinter der Front Millionen von Menschen umgebracht wurden; Stalin als Lehrmeister Hitlers, dem Nolte in einer die neudeutsche Ideologie präzis charakterisierenden Bemerkung nur nachträgt, dem Repertoire des Terrors den »technischen Vorgang der Vergasung« (FAZ 6.6.86) hinzugefügt zu haben. Auschwitz – ein Problem von Technik und Chemie. Die Debatte schlief bald ein, weil Nolte wissenschaftlich fundierte Einwände ignoriert und seine Thesen zum Holocaust so feinsinnig weiterspinnt, dass sie von einer Rechtfertigung nur noch mit einer Lupe zu unterscheiden sind.

      B. Seebacher-B. sprach jüngst zum staatlich gehegten Volkstrauertag in der Frankfurter Paulskirche und wiederholte fast wörtlich Noltes Kernthese: »Dass nicht aufhören kann, was nicht aufhören darf, kann und darf nicht das Maß unserer Erinnerung sein« (FAZ 15.11.93). Es geht erneut darum, Risse und Gräben in der jüngsten deutschen Geschichte zu planieren, Opfer nationalsozialistischer Herrschaft zu allen übrigen Toten zu legen. 1989 »stellt alles auf den Kopf, was zuvor gültig gewesen ist und was nicht«. Das betrifft auch die neue allgemeine deutsche Friedhofsordnung: Tod ist Tod und tot sowieso. Dieses Mal regiert nicht ein chronologisches Mätzchen die Revision: nach dem alten Muster post hoc, ergo propter hoc, d. h. dem historistischen Trick der Verzauberung einer zeitlichen Abfolge in ein Kausalverhältnis, hatte es Nolte versucht; und auch nicht die notorisch alles mit allem verwechselnden und damit alles verniedlichenden Vergleiche, die seit dem Golfkrieg so beliebt sind, treiben die Autorin an, sondern die Gier nach »Normalität«. »Normalität heißt, ein Deutschland wollen, das seine Kraft aus der Gegenwart bezieht.« Eine ebenso geschmackssichere wie steinerne Dummheit gegenüber Toten, die wer weiß wo sind, aber nicht in der Gegenwart.

      Zum Tod und zu Toten hat B. Seebacher-B. ein exquisites Verhältnis, das sie in den Augen der Organisatoren zur richtigen Festrednerin macht. Als vor einigen Monaten im Westteil der Republik Häuser angesteckt und Menschen verbrannten, fielen ihr dazu Sätze ein, die ihresgleichen suchen: Demnach hat man sich zu merken, »dass das Recht der Lebenden durch die Erinnerung an die Toten nicht aufgehoben und nicht einmal eingeschränkt wird. Im Leben eines Volkes ist es wie im Leben des einzelnen: Man muss sich selber achten, um andere zu achten und von anderen geachtet zu werden« (FAZ 28.1.93). Die Asche der verbrannten Türken war gerade erst erkaltet.

      Den geraden Weg zur »Normalität« versperrten bislang ein paar Millionen Vergaste, in wissenschaftlichen Experimenten Ermordete, in der Haft Erschlagene, durch Zwangsarbeit Vernichtete, von Einsatzgruppen und Wehrmacht Ermordete, von furchtbaren Juristen in den Tod Geschickte. Diese sperrige Last sollte weggeschafft werden – dauerhaft und im Namen des »Volkstrauertags«. Das ist ein durch und durch verlogenes, in keine europäische Sprache übersetzbares Wort, das seine Entstehung (1923) dem Geist von Dolchstoßlegenden und seine Wiederbelebung (1952) dem bigotten Adenauer-Regime verdankt. Seine einzig stimmige und mögliche Übersetzung erhielt es 1934 von den Nazis, die aus dem heuchlerischen »Volkstrauertag« den »Heldengedenktag« machten. Sie sollen ihren Tag wiederhaben, jene, die nach der Rede von B. Seebacher-B. in der Paulskirche »Ich hatt’ einen Kameraden« anstimmten (FR 15.11.93).

      Anderes als Ballast wegräumen wollte auch Nolte 1986 nicht, aber bevor ich auf die bemerkenswerte Reprise im Geiste der »Ideen von 1989« eingehe, lohnt sich ein Blick zurück.

      Der Zeithistoriker M. Broszat forderte schon 1985 eine »Historisierung« des Nationalsozialismus. Er redete damit allerdings nicht einer verharmlosenden Einordnung der Nazi-Zeit und der Nazi-Verbrechen ins Kontinuum der Geschichte das Wort (wie neuerdings R. Zittelmann, K. Weissmann, G. Schöllgen u. a.). Im Gegenteil: Gerade wer auf der Einmaligkeit des Verbrechens industrieller Menschenvernichtung besteht, muss zwingend – um die Einmaligkeit begreifen zu können – historische Vergleiche anstellen, um das Geschehen im historischen Kontext zu verstehen. Dieses aufklärerische Unternehmen, kritisch verstanden und nicht apologetisch im Sinne jener, die das Ganze endlich vergessen machen wollen, richtete sich auch gegen die nur noch mit beschwörenden Chiffren und pathetischen Formeln operierende Redeweise über die Nazi-Verbrechen. Dazu gehören das raunende Herzitieren von »Auschwitz« bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ebenso wie das immunisierende Gerede über »Singularität« oder »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), das sich jedem rationalen Verstehen und Begreifen entziehe und entziehen solle.

      Die im Historikerstreit kulminierende Debatte hat ihren Ursprung in der »geistig-moralischen Wende«, die Kohl 1981 programmatisch verkündete. Konservative Historiker und Publizisten entdeckten daraufhin, woran es den Deutschen angeblich besonders mangelte – an »Identität«, die einige bald »nationale Identität« nannten, womit dann jeder wusste, wohin die Reise gehen sollte. Sinn- und Identitätsbastler hatten von nun an Konjunktur.

      Zum 30.1.1983, d. h. zur fünfzigsten Wiederkehr des Tages, an dem die bürgerliche Elite in Deutschland die Macht den Nationalsozialisten übergab, hielt H. Lübbe eine Rede im Berliner Reichstagsgebäude (FAZ 24.1.1983). СКАЧАТЬ