Название: Stillerthal
Автор: Martina Simonis
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783724522935
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Matthis sah sie an.
«Du bist eine Aydin?»
Lele nickte.
«Ja. Ich bin eine Tochter derer, die weitergezogen sind.»
Ehrfurchtsvoll blickte Matthis hinauf auf den so unüberwindbar wirkenden Kranz der schneebedeckten Berge.
«Dann gibt es tatsächlich das Land hinter den Bergen!»
«Ja. Es gibt das Land und es war ein Paradies», antwortete Lele, aber ihre Stimme klang dumpf, als sie das sagte. Kaum hörbar fügte sie hinzu: «Es wurde zur Hölle …».
Dann sagte sie nichts mehr. Matthis hörte ihrem schweren Atem an, welche Anstrengung es kostete, die Erinnerung niederzuringen. Taktvoll schwieg er. Schließlich stand er auf und streckte die müden Glieder. Er reichte ihr seine Hand.
«Komm, lass uns nach Hause gehen.»
Matthis half Lele, vom Felsen hinunterzusteigen, und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.
Lele trat aus dem Haus und sah sich suchend nach Matthis um. Sie entdeckte ihn oben am Waldrand auf dem neuen Feld, das er urbar gemacht hatte. Mit gleichmäßigen wuchtigen Schlägen hieb Matthis mit der Hacke den störrischen Bergboden auf. Sein Gesicht war verschlossen und konzentriert, wie immer, wenn er arbeitete. Es war ein paar Masuren her, dass Matthis beschlossen hatte, ein kleines ebenes Waldstück, das an die Winterweide des Matthishofs grenzte, zu roden und dort ein weiteres Feld anzulegen. Er hatte die Bäume gefällt und zu Brennholz gehackt, hatte sich Lundis’ Ochsen ausgeliehen, um die Wurzelballen aus der Erde zu ziehen, hatte das Reisig verteilt und abgebrannt, als Dünger für die Erde. Nun bereitete er das Gelände für die Saat vor. Lele wusste, dass er es für sie tat. Ihr Magen war die fettreiche Kost nicht gewohnt und hatte des Öfteren rebelliert. Nun wollte Matthis für etwas mehr Korn auf dem Speiseplan sorgen.
Sie hatte in den letzten Monden viel gelernt über das Leben der Bergbauern in Stillerthal. Jedes noch so kleine Feld musste dem Berg abgerungen und von Steinen befreit werden. Stallmist war ein wertvolles Gut, immer und immer wieder wurde er umgesetzt und gewendet, damit er reifte und auf die Felder und den Gemüsegarten aufgebracht werden konnte. Zweimal am Tag wurden die Kühe gemolken, um die Euter zu schonen. Und auch die Käseherstellung war mühsam und zeitaufwendig. Sie hatte größten Respekt vor diesen Menschen, vor der Selbstverständlichkeit, mit der sie die täglich anfallenden schweren Arbeiten verrichteten, und dem klaglosen Hinnehmen der mageren Ausbeute.
Lele packte einen Krug Wasser, ein Tuch und den gut gefüllten Teller in die Kiepe und ging zu Matthis.
«Hayda Matthis!»
Matthis setzte die Hacke ab, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.
«Die Sonne steht hoch, es ist Zeit für eine Pause.»
Matthis nickte und setzte sich in den Schatten unter den nächsten Baum. Er wusch sich mit etwas Wasser aus dem Krug die Hände, dann nahm er Teller und Löffel entgegen und begann hastig, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Plötzlich hielt er inne und schaute erstaunt auf seinen Teller. Er kaute weiter, nun langsamer und bewusster. Schließlich schluckte er.
«Es», er zeigte auf seinen Teller, «es schmeckt … sehr gut!», sagte er anerkennend. «Aromatisch.»
«Danke!», sagte Lele.
Insgeheim lächelte sie. Es war nicht schwer, Matthis’ fade, gewürzarme Kochkunst zu übertrumpfen. Dennoch freute sie sich. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, Matthis ein klein wenig von dem zurückzugeben, das er ihr geschenkt hatte: ein neues Leben, eine neue Heimstatt. Beim Durchstreifen der Wiesen und der nahen Wälder hatte sie zahlreiche essbare Kräuter entdeckt, die sie aus Aldan-Aymurin kannte. Gerne nutzte sie diese, um der kargen Frühjahrskost etwas mehr Geschmack zu geben.
«Die Kartoffeln habe ich in der Schale gekocht und danach mit Dornkraut angeröstet. Das Grün sind frische Federblatttriebe. Federblattsalat ist eine beliebte Delikatesse im Frühjahr, wenn noch nicht viel wächst. Und den Schmelzkäse hab ich mit frischem Schneewurz und Wintergrün bestreut, dann ist er besser verträglich.»
Lele setzte sich entspannt neben Matthis ins Gras und sah zu, wie er seinen Teller leerte. Welch ein Unterschied zu den ersten Wochen ihres notgedrungenen Zusammenlebens. Das Gespräch auf dem Felsen, ihre Offenbarung, hatte den Wandel gebracht. Die Scheu, die bis dahin das Verhältnis zwischen ihr und Matthis bestimmt hatte, war einer vorsichtigen Vertrautheit gewichen. Das Schweigen, wenn es nichts zu sagen gab, war nicht mehr beängstigend, die kurzen Alltagsgespräche zwanglos und freundlich. Deshalb wagte sie, die eine Frage zu stellen, die in ihr gärte, seit sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht war.
«Matthis, damals, als du mich gefunden hast, hatte ich da noch etwas anderes außer meinen Kleidern an mir? Eine Kette mit einer Art Amulett?»
Matthis sah auf und dachte nach. Schließlich schüttelte er den Kopf.
«Nein.»
«Bist du sicher? Vielleicht hast du es nur vergessen. Vielleicht fandest du es schön und hast es genommen, ohne weiter darüber nachzudenken …»
Matthis legte den Löffel beiseite und nahm ihre Hand.
«Lele, da war nichts. Ich würde dich nie bestehlen.»
Lele fühlte, wie sich Eiseskälte in ihr ausbreitete. Sie hatte die Antwort erhalten, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte.
«Dann ist es verloren», flüsterte sie. «Die Zukunft und die Vergangenheit …»
Matthis schüttelte den Kopf.
«Nichts ist verloren. Du HAST etwas verloren. Was verloren wurde, kann wiedergefunden werden.»
Lele starrte vor sich, in die braungrauen Schollen der frisch gestochenen Erde.
«Ich hoffe, du hast recht … Denkst du, wir können schon suchen gehen?»
Matthis schüttelte den Kopf.
«Oben auf den Almen liegt noch Schnee. Du musst dich noch etwas gedulden.»
Seit diesem Gespräch waren viele Tage vergangen. Die heller und länger werdenden Tage zeigten, dass die Warmzeit nicht aufzuhalten war. Immer wieder schaute Lele nach oben auf die Almwiesen und beobachtete, wie die Schneedecke dünner und löchriger wurde. Als sie die ersten freien braunen Stellen sah, holte sie Matthis und zeigte nach oben.
«Schau, es ist Zeit. Ich denke, wir können suchen gehen.»
Matthis schüttelte den Kopf.
«Dort oben ist noch Winter. Wir müssen warten.»
Als nur noch wenige weiße Flecken an den Winter erinnerten, zeigte sie erneut hinauf.
«Schau, es ist Zeit. Ich denke, jetzt können wir suchen gehen.»
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