Die Jahre. Virginia Woolf
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Название: Die Jahre

Автор: Virginia Woolf

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788726643015

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СКАЧАТЬ baumelte es an einem Stückchen Bindfaden. Sie schloß die Augen; aber das Gesicht war noch immer da, dehnte sich aus und schrumpfte wieder, grau, weiß, bläulichrot und blatternarbig. Sie streckte die Hand aus, um das große Bett neben dem ihren zu berühren. Aber es war leer. Sie lauschte. Sie hörte das Geklapper von Messern und das Plappern von Stimmen im Spielzimmer über den Gang. Aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Sie bemühte sich, an eine Schafherde zu denken, die auf einer Weide in eine Hürde gepfercht war. Sie ließ eins der Schafe über die Hürde springen; dann wieder eins, dann noch eins. Sie zählte sie, während sie sprangen. Eins, zwei, drei, vier – sprangen über die Hürde. Aber das fünfte wollte nicht springen. Es wandte sich um und sah sie an. Sein langes schmales Gesicht war grau; seine Lippen bewegten sich; es war das Gesicht des Mannes bei der Briefkastensäule; und sie war allein damit. Wenn sie die Augen schloß, war es da; wenn sie sie öffnete, war es noch immer da.

      Sie setzte sich im Bett auf und rieflaut: »Nannie! Nannie!«

      Überall Totenstille. Das Klappern vonMessern und Gabeln im andern Zimmer war verstummt. Sie war ganz allein mit etwas Grauenhaftem. Dann hörte sie ein Schlurren im Gang. Es kam näher und näher. Das war der Mann selbst. Seine Hand war auf dem Türknauf. Die Tür öffnete sich. Ein Dreieck von Licht fiel über den Waschtisch. Der Krug und das Becken leuchteten auf. Der Mann war tatsächlich bei ihr im Zimmer ... aber es war Eleanor.

      »Warum schläfst du nicht?« fragte Eleanor. Sie stellte ihren Kerzenleuchter hin und begann das Bettzeug zu glätten. Es war ganz zerwühlt. Sie sah Rose an; deren Augen glänzten sehr, und ihre Wangen waren gerötet. Was war los? Hatte das Hin und Her unten in Mamas Zimmer sie aufgeweckt?

      »Was hat dich denn wachgehalten?« fragte sie. Rose gähnte abermals; aber es war eher ein Seufzer als ein Gähnen. Sie konnte Eleanor nicht sagen, was sie gesehn hatte. Sie hatte ein tiefes Schuldgefühl; aus irgendeinem Grund mußte sie lügen über das Gesicht, das sie gesehn hatte.

      »Ich hab’ einen bösen Traum gehabt«, sagte sie. »Ich hab’ mich gefürchtet.« Ein seltsames nervöses Zucken ging durch ihren Körper, als sie sich im Bett aufsetzte. Was war nur los? fragte sich Eleanor von neuem. Hatte sie mit Martin gerauft? Hatte sie wiederum die Katzen in Miss Pyms Garten gejagt?

      »Hast du wieder Jagd auf Katzen gemacht?« fragte sie. »Die armen Katzen«, fügte sie hinzu. »Es ist ihnen genau so unangenehm, wie es dir wäre«, sagte sie. Aber sie ahnte, daß Roses Angst nichts mit Katzen zu tun hatte. Rose umklammerte krampfhaft ihren Finger; starrte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen vor sich hin.

      »Was hast du denn geträumt?« fragte sie und setzte sich auf den Bettrand. Rose sah sie an; sie konnte es ihr nicht sagen; aber um jeden Preis mußte Eleanor bei ihr bleiben.

      »Ich hab’ geglaubt, ich hör’ einen Mann hier im Zimmer«, brachte sie endlich hervor. »Einen Räuber«, fügte sie hinzu.

      »Einen Räuber? Hier?« sagte Eleanor. »Aber Rose, wie könnte denn ein Räuber in dein Zimmer kommen? Papa ist doch da und Morris – die würden nie einen Räuber in dein Zimmer kommen lassen.«

      »Nein«, sagte Rose. »Papa würde ihn töten.« Es war sonderbar, wie sie zuckte. »Aber was tut ihr denn alle?« fragte sie unruhig. »Seid ihr denn noch nicht schlafen gegangen? Ist es nicht sehr spät?«

      »Was wir alle tun?« sagte Eleanor. »Wir sitzen im Wohnzimmer. Es ist nicht sehr spät.« Während sie sprach, tönte ein schwaches Dröhnen durchs Zimmer. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung kam, konnte man die Uhr von St. Paul’s schlagen hören. Die weichen Wellenkreise breiteten sich in der Luft aus: eins, zwei, drei, vier – Eleanor zählte – acht, neun, zehn. Sie war erstaunt, als die Glockenschläge so bald aufhörten.

      »Hörst du? Es ist erst zehn Uhr«, sagte sie. Sie hatte geglaubt, es sei viel später. Aber der letzte Schlag löste sich in der Luft auf. »So, jetzt wirst du einschlafen«, sagte sie. Rose umklammerte ihre Hand.

      »Geh nicht, Eleanor! Noch nicht!« flehte sie.

      »Aber so sag mir doch, was dich erschreckt hat?« begann Eleanor. Etwas wurde ihr verheimlicht, davon war sie überzeugt.

      »Ich sah ... « begann Rose. Sie machte eine große Anstrengung, ihr die Wahrheit zu sagen; ihr von dem Mann dort beim Briefkasten zu erzählen. »Ich sah ... « wiederholte sie. Aber da öffnete sich die Tür, und die Kinderfrau kam herein.

      »Ich weiß nicht, was heut’ abend mit Rosie ist«, sagte sie, geschäftig näherkommend. Sie fühlte sich ein wenig schuldbewußt; sie war unten geblieben und hatte mit den andern Dienstboten über die Gnädige geschwatzt.

      »Sie schläft für gewöhnlich so fest«, sagte sie, ans Bett tretend.

      »Also hier ist Nannie«, sagte Eleanor. »Sie kommt schon schlafen. Da wirst du dich nicht mehr fürchten, nicht wahr?« Sie strich die Bettdecke glatt und küßte Rose. Sie stand auf und ergriff ihren Kerzenleuchter.

      »Gute Nacht, Nannie«, sagte sie und wandte sich der Tür zu.

      »Gute Nacht, Miss Eleanor«, sagte Nannie und legte einiges Mitgefühl in ihre Stimme; denn unten in der Küche hieß es, daß die Gnädige es nicht mehr viel länger machen werde.

      »Dreh dich um und schlaf ein, Schatz!« sagte sie und küßte Rose auf die Stirn. Denn die Kleine, die bald mutterlos wäre, tat ihr leid. Dann löste sie die silbernen Knöpfe aus den gesteiften Manschetten und begann die Haarnadeln aus den Haaren zu nehmen, während sie in ihren Unterröcken vor der gelben Kommode stand.

      »Ich sah«, wiederholte Eleanor, als sie die Kinderzimmertür schloß. »Ich sah ... « Was hatte Rosie gesehn? Etwas Gräßliches, etwas Geheimnisvolles. Aber was? Dort, hinter ihren starren Augen, war es verborgen gewesen. Sie hielt den Leuchter ein wenig schief in der Hand. Drei Tropfen Stearin fielen auf die polierte Wandleiste, bevor sie es bemerkte. Sie hielt den Kerzenleuchter wieder gerade und ging die Treppe hinunter. Im Gehn lauschte sie. Es war alles still. Martin schlief. Ihre Mutter schlief. Als sie so an den Türen vorbeikam, schien sich eine Last auf sie zu senken. Sie blieb stehn und blickte in die Halle hinunter. Eine Leere überkam sie. Wo bin ich? fragte sie sich, auf einen wuchtigen Rahmen starrend. Was ist das alles? Sie schien mitten im Nichts allein zu sein; doch sie mußte hinuntergehn, mußte ihre Last tragen. Sie hob ein wenig die Arme, als trüge sie einen Krug, einen irdenen Krug auf dem Kopf. Wieder blieb sie stehn. Der Umriß einer Schüssel zeichnete sich in ihren Augen ab. Es war Wasser darin und etwas Gelbes; es war der Hundenapf, so begriff sie; es war die Schwefelstange in dem Hundenapf; der Hund lag eingerollt am Fuß der Treppe. Sie stieg vorsichtig über den Körper des schlafenden Tiers und ging ins Wohnzimmer.

      Alle blickten sie auf, als sie eintrat; Morris hatte ein Buch in der Hand, aber er las nicht; Milly hielt ein Stück Stoff in der Hand, aber sie nähte nicht; Delia lag in ihren Stuhl zurückgelehnt und tat gar nichts. Eleanor stand einen Augenblick zögernd da. Dann wandte sie sich zum Schreibtisch. »Ich werde Edward schreiben«, murmelte sie. Sie griff nach der Feder, aber sie zögerte. Sie fand es schwer, an Edward zu schreiben, wie sie ihn so vor sich sah, als sie die Feder ergriff, als sie das Briefpapier auf dem Schreibtisch glättete. Seine Augen standen zu nahe beieinander; er hatte so eine Art, sich vor dem Spiegel in der Halle den Schopf hochzustreichen, die sie reizte. »Nix« war ihr Spitzname für ihn. »Mein lieber Edward«, begann sie zu schreiben, bei dieser Gelegenheit »Edward« wählend, nicht »Nix«.

      Morris blickte von dem Buch auf, das er zu lesen versuchte. Das Kratzen der Feder beirrte ihn. Nun hielt Eleanor inne; schrieb dann wieder; griff sich dann mit der Hand an den Kopf. Alle Sorgen lagen natürlich auf ihr. Aber sie beirrte ihn. Sie stellte ewig Fragen; sie hörte nie auf die Antworten. Er blickte wieder СКАЧАТЬ