Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ lebendigen Strom, dessen segensreiche Gewalt nicht minder groß in diesem Geschehen erscheint, als die todbringende Macht der stehenden Gewässer im andern. Durch eine Episode des letzteren erhellt auch die befremdliche Vermummung in die vorgefundenen Hochzeitskleider sich völlig. Dort nämlich nennt Nanny das für Ottilie bereitliegende Totenhemd ihr Brautgewand. So ist es denn wohl erlaubt, demgemäß den seltsamen Zug der Novelle auszulegen und – auch ohne vielleicht auffindbare mythische Analogien – die Brautgewänder dieser Liebenden als umgewandelte und nunmehr todgefeite Sterbekleider zu erkennen. Die gänzliche Geborgenheit des Daseins, das zuletzt sich ihnen eröffnet, ist auch sonst bezeichnet. Nicht allein indem die Gewandung sie den Freunden verbirgt, sondern vor allem durch das große Bild des am Orte ihrer Vereinigung landenden Schiffes wird das Gefühl erregt, daß sie kein Schicksal mehr haben und da stehen, wohin die andern einmal gelangen sollen.

      Mit alledem darf als unumstößlich gewiß betrachtet werden, daß im Bau der Wahlverwandtschaften dieser Novelle eine beherrschende Bedeutung zukommt. Wenn auch erst in dem vollen Licht der Haupterzählung all ihre Einzelheiten sich erschließen, bekunden die genannten unverkennbar: den mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der Novelle als Motive der Erlösung. Also darf, wenn im Roman das Mythische als Thesis angesprochen wird, in der Novelle die Antithesis gesehen werden. Hierauf deutet ihr Titel. »Wunderlich« nämlich müssen jene Nachbarskinder am meisten den Romangestalten scheinen, die sich denn auch mit tiefverletztem Gefühl von ihnen abwenden. Eine Verletzung, die Goethe, der geheimen und vielleicht in vielem sogar ihm verborgenen Bewandtnis der Novelle gemäß, auf äußerliche Weise motivierte, ohne ihr damit die innere Bedeutung zu nehmen. Während schwächer und stummer, doch in voller Lebensgröße jene Gestalten im Blick des Lesers verharren, verschwinden die Vereinten der Novelle unter dem Bogen einer letzten rhetorischen Frage gleichsam in der unendlich fernen Perspektive. Sollte nicht in der Bereitschaft zum Entfernen und Verschwinden Seligkeit, die Seligkeit im Kleinen angedeutet sein, die Goethe später zum einzigen Motiv der »Neuen Melusine« gemacht hat?

      —————

      Eh ihr den leib ergreift auf diesem sterne

      Erfind ich euch den traum bei ewigen sternen.

      George

      Der Anstoß, den an jeder Kunstkritik unter dem Vorwand, sie trete dem Werk zu nahe, diejenigen nehmen, welche nicht das Nachbild ihrer eigenliebenden Verträumtheit in ihr finden, bezeugt so viel Unwissenheit von dem Wesen der Kunst, daß eine Zeit, der deren streng bestimmter Ursprung mehr und mehr lebendig wird, ihm keine Widerlegung schuldet. Dennoch ist ein Bild, das der Empfindsamkeit den bündigsten Bescheid erteilt, vielleicht erlaubt. Man setze, daß man einen Menschen kennen lerne, der schön und anziehend ist, aber verschlossen, weil er ein Geheimnis mit sich trägt. Es wäre verwerflich, in ihn dringen zu wollen. Wohl aber ist es erlaubt zu forschen, ob er Geschwister habe und ob deren Wesen vielleicht das Rätselhafte des Fremden in etwas erkläre. Ganz so forscht die Kritik nach Geschwistern des Kunstwerks. Und alle echten Werke haben ihre Geschwister im Bereiche der Philosophie. Sind doch eben jene die Gestalten, in welchen das Ideal ihres Problems erscheint. – Die Ganzheit der Philosophie, ihr System, ist von höherer Mächtigkeit als der Inbegriff ihrer sämtlichen Probleme es fordern kann, weil die Einheit in der Lösung ihrer aller nicht erfragbar ist. Wäre nämlich die Einheit in der Lösung aller Probleme selbst erfragbar, so würde alsbald mit Hinsicht auf die Frage, welche sie erfragt, die neue sich einstellen, worin die Einheit ihrer Beantwortung mit der von allen übrigen beruhe. Daraus folgt, daß es keine Frage gibt, welche die Einheit der Philosophie erfragend umspannt. Den Begriff dieser nichtexistenten Frage, welche die Einheit der Philosophie erfragt, bezeichnet in der Philosophie das Ideal des Problems. Wenn aber auch das System in keinem Sinne ertragbar ist, so gibt es doch Gebilde, die, ohne Frage zu sein, zum Ideal des Problems die tiefste Affinität haben. Es sind die Kunstwerke. Nicht mit der Philosophie selbst konkurriert das Kunstwerk, es tritt lediglich zu ihr ins genaueste Verhältnis durch seine Verwandtschaft mit dem Ideal des Problems. Und zwar kann, einer Gesetzlichkeit nach, die im Wesen des Ideals überhaupt gründet, dieses einzig in einer Vielheit sich darstellen. Nicht aber in einer Vielheit von Problemen erscheint das Ideal des Problems. Vielmehr liegt es vergraben in jener der Werke und seine Förderung ist das Geschäft der Kritik. Sie läßt im Kunstwerk das Ideal des Problems in Erscheinung, in eine seiner Erscheinungen treten. Denn das, was sie zuletzt in jenem aufweist, ist die virtuelle Formulierbarkeit seines Wahrheitsgehalts als höchstem philosophischen Problems; wovor sie aber, wie aus Ehrfurcht vor dem Werk, gleich sehr jedoch aus Achtung vor der Wahrheit innehält, das ist eben diese Formulierung selbst. Wäre doch jene Formulierbarkeit allein, wenn das System erfragbar wäre, einzulösen und würde damit aus einer Erscheinung des Ideals sich in den nie gegebenen Bestand des Ideals selbst verwandeln. So aber sagt sie einzig, daß die Wahrheit in einem Werke zwar nicht als erfragt, doch als erfordert sich erkennen würde. Wenn es also erlaubt ist zu sagen, alles Schöne beziehe sich irgendwie auf das Wahre und sein virtueller Ort in der Philosophie sei bestimmbar, so heißt dies, in jedem wahren Kunstwerk lasse eine Erscheinung von dem Ideal des Problems sich auffinden. Daraus ergibt sich, daß von dort an, wo die Betrachtung von den Grundlagen des Romans zur Anschauung seiner Vollkommenheit sich erhebt, die Philosophie statt des Mythos sie zu führen berufen ist. –

      Damit tritt die Gestalt der Ottilie hervor. Scheint doch in dieser am sichtbarsten der Roman der mythischen Welt zu entwachsen. Denn wenn sie auch als Opfer dunkler Mächte fällt, so ist’s doch eben ihre Unschuld, welche sie, der alten Forderung gemäß, die vom Geopferten Untadeligkeit verlangt, zu diesem furchtbaren Geschick bestimmt. Zwar stellt in dieser Mädchengestalt nicht die Keuschheit, soweit sie aus der Geistigkeit entspringen mag, sich dar – vielmehr begründet solche Unberührbarkeit bei der Luciane nahezu einen Tadel – jedoch ihr ganz natürliches Gebaren macht trotz vollkommener Passivität, die der Ottilie im Erotischen sowie in jeder anderen Sphäre eignet, diese bis zur Entrücktheit unnahbar. In seiner aufdringlichen Art sagt auch das Wernersche Sonett es an: Die Keuschheit dieses Kindes hütet kein Bewußtsein. Aber ist ihr Verdienst nicht nur umso größer? Wie tief sie im natürlichen Wesen des Mädchens gründet, stellt Goethe in den Bildern dar, in denen er sie mit dem Christusknaben und mit Charlottens totem Kind im Arme zeigt. Zu beiden kommt Ottilie ohne Gatten. Jedoch der Dichter hat noch mehr hiermit gesagt. Denn das »lebende« Bild, das die Anmut und die aller Sittenstrenge überlegene Reinheit der Gottesmutter darstellt, ist eben das künstliche. Dasjenige, das die Natur nur wenig später bietet, zeigt den toten Knaben. Und gerade dies enthüllt das wahre Wesen jener Keuschheit, deren sakrale Unfruchtbarkeit an sich selbst in nichts über der unreinen Verworrenheit der Sexualität steht, die die zerfallenen Gatten zueinander führt und deren Recht allein darin waltet, eine Vereinigung hintanzuhalten, in der sich Mann und Frau verlieren müßten. In Ottiliens Erscheinung aber beansprucht diese Keuschheit bei weitem mehr. Sie ruft den Schein einer Unschuld des natürlichen Lebens hervor. Die heidnische wenn auch nicht mythische Idee dieser Unschuld verdankt zumindest ihre äußerste und folgenreichste Formulierung im Ideal der Jungfräulichkeit dem Christentum. Wenn die Gründe einer mythischen Urschuld im bloßen Lebenstrieb der Sexualität zu suchen sind, so sieht der christliche Gedanke ihren Widerpart, wo jener am meisten von drastischem Ausdruck entfernt ist: im Leben der Jungfrau. Aber diese klare wenn auch nicht klar bewußte Intention schließt einen folgenschweren Irrtum ein. Zwar gibt es, wie eine natürliche Schuld, so eine natürliche Unschuld des Lebens. Diese letztere aber ist nicht an die Sexualität – und sei es verneinend – sondern einzig an ihren Gegenpol den – gleichermaßen natürlichen – Geist gebunden. Wie das sexuelle Leben des Menschen der Ausdruck einer natürlichen Schuld werden kann, so sein geistiges, bezogen auf die Einheit seiner gleichviel wie beschaffenen Individualität, der Ausdruck einer natürlichen Unschuld. Diese Einheit individualen geistigen Lebens ist der Charakter. Die Eindeutigkeit als sein konstitutives Wesensmoment unterscheidet ihn vom Dämonischen aller rein sexuellen Phänomene. Einem Menschen einen komplizierten Charakter zusprechen kann nur heißen, ihm, sei es wahrheitsgemäß, sei es zu Unrecht, den Charakter absprechen, indessen für jede Erscheinung des bloßen sexuellen Lebens das Siegel ihrer Erkenntnis die Einsicht in die Zweideutigkeit ihrer Natur СКАЧАТЬ