Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ in Form irgend einer Bekehrung, der Hinwendung zu einer Gemeinschaft nicht erlaubt, wie er Hölderlin nicht erlaubt war. Sie verabscheute Goethe bei den Frühromantikern. Aber die Gesetze, denen jene in der Bekehrung und damit im Erlöschen ihres Lebens vergeblich zu genügen suchten, entfachten in Goethe, der ihnen gleichfalls sich unterwerfen mußte, die allerhöchste Flamme seines Lebens. Die Schlacken jeder Leidenschaft verbrannten in ihr, und so vermochte er im Briefwechsel bis an sein Lebensende die Liebe zu Marianne so schmerzlich nahe sich zu halten, daß mehr als ein Jahrzehnt nach jener Zeit, in welcher sich ihre Neigung erklärte, jenes vielleicht gewaltigste Gedicht des Divan entstehen konnte: »Nicht mehr auf Seidenblatt | Schreib’ ich symmetrische Reime«. Und das späteste Phänomen solcher dem Leben, ja zuletzt der Lebensdauer gebietenden Dichtung war der Abschluß des Faust. Sind in der Reihe dieser Alterswerke das erste die Wahlverwandtschaften, so muß bereits in ihnen, wie dunkel darin der Mythos auch walte, eine reinere Verheißung sichtbar sein. Aber einer Betrachtung wie der Gundolfschen wird sie sich nicht erschließen. Sie so wenig wie die der übrigen Autoren gibt sich Rechenschaft von der Novelle, von den »wunderlichen Nachbarskindern«.

      Die Wahlverwandtschaften selbst sind anfänglich als Novelle im Kreise der Wanderjahre geplant worden, doch drängte sie ihr Wachstum aus ihm heraus. Aber die Spuren des ursprünglichen Formgedankens haben sich trotz allem erhalten, was das Werk zum Roman werden ließ. Nur die völlige Meisterschaft Goethes, welche darin auf einem Gipfel sich zeigt, wußte es zu verhindern, daß die eingeborne novellistische Tendenz die Romanform zerbrochen hätte. Mit Gewalt erscheint der Zwiespalt gebändigt und die Einheit erreicht, indem er die Form des Romans durch die der Novelle gleichsam veredelt. Der bezwingende Kunstgriff, der dies vermochte und der sich gleich gebieterisch von seiten des Gehalts her aufdrang, liegt darin, daß der Dichter die Teilnahme des Lesers in das Zentrum des Geschehens selbst hineinzurufen verzichtet. Indem nämlich dieses der unmittelbaren Intention des Lesers so durchaus unzugänglich bleibt, wie es am deutlichsten der unvermutete Tod der Ottilie beleuchtet, verrät sich der Einfluß der Novellenform auf die des Romans und gerade in der Darstellung dieses Todes auch am ehesten ein Bruch, wenn zuletzt jenes Zentrum, das in der Novelle sich bleibend verschließt, mit verdoppelter Kraft sich bemerkbar macht. Der gleichen Formtendenz mag angehören, worauf schon R. M. Meyer hingewiesen hat, daß die Erzählung gerne Gruppen stellt. Und zwar ist deren Bildlichkeit grundsätzlich unmalerisch; sie darf plastisch, vielleicht stereoskopisch genannt werden. Auch sie erscheint novellistisch. Denn wenn der Roman wie ein Maelstrom den Leser unwiderstehlich in sein Inneres zieht, drängt die Novelle auf den Abstand hin, drängt aus ihrem Zauberkreise jedweden Lebenden hinaus. Darin sind die Wahlverwandtschaften trotz ihrer Breite novellistisch geblieben. Sie sind an Nachhaltigkeit des Ausdrucks nicht der in ihnen enthaltenen eigentlichen Novelle überlegen. In ihnen ist eine Grenzform geschaffen, und durch diese stehn sie von andern Romanen weiter entfernt als jene unter sich. Im »Meister und in den Wahlverwandtschaften wird der künstlerische Stil durchaus dadurch bestimmt, daß wir überall den Erzähler fühlen. Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus …, der die Ereignisse und Menschen auf sich selber stellt, so daß sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittelbares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine ›Erzählung‹, die von dem dahinter stehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird … die Goetheschen Romane laufen innerhalb der Kategorien des ›Erzählers‹ ab«. »Vorgetragen« nennt Simmel sie ein andermal. Wie immer diese Erscheinung, die ihm nicht mehr analysierbar erscheint, für den Wilhelm Meister sich erklären mag, in den Wahlverwandtschaften rührt sie daher, daß Goethe sich mit Eifersucht es vorbehält, im Lebenskreise seiner Dichtung ganz allein zu walten. Eben dergleichen Schranken gegen den Leser kennzeichnen die klassische Form der Novelle, Boccaccio gibt den seinigen einen Rahmen, Cervantes schreibt ihnen eine Vorrede. So sehr sich also in den Wahlverwandtschaften die Form des Romans selbst betont, eben diese Betonung und dieses Übermaß von Typus und Kontur verrät sie als novellistisch.

      Nichts konnte den Rest von Zweideutigkeit der ihr verbleibt unscheinbarer machen, als die Einfügung einer Novelle, die, je mehr das Hauptwerk gegen sie als gegen ein reines Vorbild ihrer Art sich abhob, desto ähnlicher es einem eigentlichen Roman erscheinen lassen mußte. Darauf beruht die Bedeutung, welche für die Komposition den »wunderlichen Nachbarskindern« eignet, die als eine Musternovelle, selbst wo sich die Betrachtung auf die Form beschränkt, zu gelten haben. Auch hat nicht minder, ja gewissermaßen mehr noch als den Roman, Goethe sie als exemplarisch hinstellen wollen. Denn obwohl des Ereignisses, von dem sie berichtet, im Roman selbst als eines wirklichen gedacht wird, ist die Erzählung dennoch als Novelle bezeichnet. Sie soll als »Novelle« ebenso entschieden wie das Hauptwerk als »Ein Roman« gelten. Aufs deutlichste tritt an ihr die gedachte Gesetzmäßigkeit ihrer Form, die Unberührbarkeit des Zentrums, will sagen das Geheimnis als ein Wesenszug hervor. Denn Geheimnis ist in ihr die Katastrophe, als das lebendige Prinzip der Erzählung in die Mitte versetzt, während im Roman ihre Bedeutung, als die des abschließenden Geschehens phänomenal bleibt. Die belebende Kraft dieser Katastrophe ist, wiewohl so manches im Roman ihr entspricht, so schwer zu ergründen, daß für die ungeleitete Betrachtung die Novelle nicht weniger selbständig, doch auch kaum minder rätselhaft erscheint als »Die pilgernde Törin«. Und doch waltet in dieser Novelle das helle Licht. Alles steht, scharf umrissen, von Anfang an auf der Spitze. Es ist der Tag der Entscheidung, der in den dämmerhaften Hades des Romans hereinscheint. So ist denn die Novelle prosaischer als der Roman. In einer Prosa höhern Grades tritt sie ihm entgegen. Dem entspricht die echte Anonymität in ihren Gestalten und die halbe, unentschiedene in denen des Romans.

      Während im Leben der letztern eine Zurückgezogenheit waltet, die die verbürgte Freiheit ihres Tuns vollendet, treten die Gestalten der Novelle von allen Seiten eng umschränkt von ihrer Mitwelt, ihren Angehörigen, auf. Ja wenn Ottilie dort auf das Drängen des Geliebten mit dem väterlichen Medaillon sich sogar der Erinnerung an die Heimat entäußert, um ganz der Liebe geweiht zu sein, so fühlen sich hier selbst die Vereinten von dem elterlichen Segen nicht unabhängig. Dies Wenige bezeichnet die Paare im tiefsten. Denn gewiß ist, daß die Liebenden aus der Bindung des Elternhauses mündig heraustreten, aber nicht minder, daß sie dessen innerliche Macht wandeln, indem, sollte selbst ein jeder für sich darinnen verharren, der andere ihn mit seiner Liebe darüber hinausträgt. Gibt es anders überhaupt für Liebende ein Zeichen, so dies, daß für einander nicht allein der Abgrund des Geschlechts, sondern auch jener der Familie sich geschlossen hat. Damit solche liebende Anschauung giltig sei, darf sie dem Anblick, gar dem Wissen von Eltern nicht schwachmütig sich entziehen, wie es Eduard gegen Ottilie tut. Die Kraft der Liebenden triumphiert darin, daß sie sogar die volle Gegenwart der Eltern beim Geliebten überblendet. Wie sehr sie fähig sind, in ihrer Strahlung aus allen Bindungen einander zu lösen, das ist in der Novelle durch das Bild der Gewänder gesagt, in denen die Kinder von ihren Eltern kaum mehr erkannt werden. Nicht zu diesen allein, auch zu der übrigen Mitwelt treten die Liebenden der Novelle in ein Verhältnis. Und während für die Gestalten des Romans die Unabhängigkeit nur umso strenger die zeitliche und örtliche Verfallenheit ans Schicksal besiegelt, birgt es den andern die unschätzbarste Gewähr, daß mit dem Höhepunkt der eigenen Not den Fahrtgenossen die Gefahr droht zu scheitern. Es spricht daraus, daß selbst das Äußerste die beiden nicht aus dem Kreis der Ihrigen ausstößt, indes die formvollendete Lebensart der Romanfiguren nichts dawider vermag, daß, bis das Opfer fällt, ein jeder Augenblick sie unerbittlicher aus der Gemeinschaft der Friedlichen ausschließt. Ihren Frieden erkaufen die Liebenden in der Novelle nicht durch das Opfer. Daß der Todessprung des Mädchens jene Meinung nicht hat, ist aufs zarteste und genaueste vom Dichter bedeutet. Denn nur dies ist die geheime Intention, aus der sie den Kranz dem Knaben zuwirft: es auszusprechen, daß sie nicht »in Schönheit sterben«, im Tode nicht wie Geopferte bekränzt sein will. Der Knabe, wie er nur fürs Steuern Augen hat, bezeugt von seiner Seite, daß er nicht, sei’s wissend oder ahnungslos, an dem Vollzug, als wäre er ein Opfer, seinen Teil hat. Weil diese Menschen nicht um einer falsch erfaßten Freiheit willen alles wagen, fällt unter ihnen kein Opfer, sondern in ihnen die Entscheidung. In der Tat ist Freiheit so deutlich aus des Jünglings rettendem Entschluß entfernt wie Schicksal. Das chimärische Freiheitsstreben ist es, das über die Gestalten des Romans das Schicksal heraufbeschwört. Die Liebenden in der Novelle stehen jenseits von beiden und ihre mutige Entschließung genügt, ein Schicksal zu zerreißen, das sich über ihnen ballen, und eine Freiheit СКАЧАТЬ