Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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Wo immer eine Einsicht in Goethes Leben und Werk in Frage steht, da kann – so sichtbar Mythisches sich auch in ihnen bekunden mag – dies nicht den Erkenntnisgrund bilden. Wenn es jedoch sehr wohl im einzelnen ein Gegenstand der Betrachtung sein mag, so ist dagegen, wo es sich ums Wesen und um die Wahrheit im Werk und Leben handelt, die Einsicht in den Mythos auch in gegenständlicher Beziehung nicht die letzte. Denn in dessen Bereich repräsentiert sich vollständig weder Goethes Leben noch auch irgend eines seiner Werke. Ist dies, soweit das Leben in Frage steht, schlechthin durch seine menschliche Natur verbürgt, so lehren es die Werke im einzelnen, sofern ein Kampf, der im Leben verheimlicht ward, in deren spätesten sich bekundet. Und nur in ihnen trifft man Mythisches auch im Gehalt, nicht allein in den Stoffen an. Sie vermögen im Zusammenhange dieses Lebens wohl als gültiges Zeugnis seines letzten Ablaufs angesehen zu werden. Ihre bezeugende Kraft gilt nicht allein und nicht im tiefsten der mythischen Welt im Dasein Goethes. Es ist in ihm ein Ringen um die Lösung aus deren Umklammerung und dieses Ringen nicht weniger als das Wesen jener Welt ist in dem Goetheschen Romane bezeugt. In der ungeheuern Grunderfahrung von den mythischen Mächten, daß Versöhnung mit ihnen nicht zu gewinnen sei, es sei denn durch die Stetigkeit des Opfers, hat sich Goethe gegen dieselben aufgeworfen. War es der ständig erneuerte, in innerer Verzagtheit, doch mit eisernem Willen unternommene Versuch seines Mannesalters, jenen mythischen Ordnungen überall da sich zu untergeben, wo sie noch herrschen, ja an seinem Teil ihre Herrschaft zu festigen, wie nur immer ein Diener der Machthaber dies tut, so brach nach der letzten und schwersten Unterwerfung, zu der er sich vermochte, nach der Kapitulation in seinem mehr als dreißigjährigen Kampfe gegen die Ehe, die ihm als Sinnbild mythischer Verhaftung drohend schien, dieser Versuch zusammen und ein Jahr nach seiner Eheschließung, die in Tagen schicksalhaften Drängens sich ihm aufgenötigt hatte, begann er die Wahlverwandtschaften, mit welchen er den ständig mächtiger in seinem spätern Werk entfalteten Protest gegen jene Welt einlegte, mit der sein Mannesalter den Pakt geschlossen hatte. Die Wahlverwandtschaften sind in diesem Werk eine Wende. Es beginnt mit ihnen die letzte Reihe seiner Hervorbringungen, von deren keiner mehr er sich ganz abzulösen vermocht hat, weil bis ans Ende ihr Herzschlag in ihm lebendig blieb. So versteht sich das Ergreifende in der Tagebucheintragung von 1820, daß er die »Wahlverwandtschaften zu lesen angefangen«, so auch die sprachlose Ironie einer Szene, die Heinrich Laube überliefert: »Eine Dame äußerte gegen Goethe über die Wahlverwandtschaften: Ich kann dieses Buch durchaus nicht billigen, Herr von Goethe; es ist wirklich unmoralisch und ich empfehle es keinem Frauenzimmer. – Darauf hat Goethe eine Weile ganz ernsthaft geschwiegen und endlich mit vieler Innigkeit gesagt: Das tut mir leid, es ist doch mein bestes Buch.« Jene letzte Reihe der Werke bezeugt und begleitet die Läuterung, welche keine Befreiung mehr sein durfte. Vielleicht weil seine Jugend aus der Not des Lebens oft allzu behende Flucht ins Feld der Dichtkunst ergriffen hatte, hat das Alter in furchtbar strafender Ironie Dichtung als Gebieterin über sein Leben gestellt. Goethe beugte sein Leben unter die Ordnungen, die es zur Gelegenheit seiner Dichtungen machten. Diese moralische Bewandtnis hat es mit seiner Kontemplation der Sachgehalte im späten Alter. Die drei großen Dokumente solcher maskierten Buße wurden Wahrheit und Dichtung, der westöstliche Divan und der zweite Teil des Faust. Die Historisierung seines Lebens, wie sie Wahrheit und Dichtung zuerst, später den Tag- und Jahresheften zufiel, hatte zu bewahrheiten und zu erdichten, wie sehr dieses Leben Urphänomen eines poetisch gehaltvollen, des Lebens voller Stoffe und Gelegenheiten für »den Dichter« gewesen sei. Gelegenheit der Poesie, von welcher hier die Rede ist, ist nicht nur etwas anderes als das Erlebnis, das die neuere Konvention der dichterischen Erfindung zum Grunde legt, sondern das genaue Gegenteil davon. Was sich durch die Literaturgeschichten als die Phrase forterbt, die Goethesche Poesie sei »Gelegenheitsdichtung« gewesen, meint: Erlebnisdichtung und hat damit, was die letzten und größten Werke betrifft, das Gegenteil von der Wahrheit gesagt. Denn die Gelegenheit gibt den Gehalt und das Erlebnis hinterläßt nur ein Gefühl. Verwandt und ähnlich dem Verhältnis dieser beiden ist das der Worte Genius und Genie. Im Munde der Modernen läuft das letztere auf einen Titel hinaus, der, wie sie sich auch stellen mögen, nie sich eignen wird, das Verhältnis eines Menschen zur Kunst als ein wesentliches zu treffen. Das gelingt dem Worte Genius und die Hölderlinschen Verse verbürgen es: »Sind denn nicht dir bekannt viele Lebendigen? | Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? | Drum, mein Genius! tritt nur | Baar ins Leben und sorge nicht! | Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!« Genau das ist die antike Berufung des Dichters, welcher von Pindar bis Meleager, von den isthmischen Spielen bis zu einer Liebesstunde, nur verschieden hohe, als solche aber stets würdige Gelegenheiten für seinen Gesang fand, den auf Erlebnisse zu gründen ihm daher nicht beifallen konnte. So ist denn der Erlebnisbegriff nichts anderes als die Umschreibung jener auch vom sublimsten, weil immer noch gleich feigen Philisterium ersehnten Folgenlosigkeit des Gesanges, welcher, der Beziehung auf Wahrheit beraubt, die schlafende Verantwortung nicht zu wecken vermag. Goethe war im Alter tief genug in das Wesen der Poesie eingedrungen, um schauernd jede Gelegenheit des Gesanges in der СКАЧАТЬ