Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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Der Begriff des Gedichteten ist ein Grenzbegriff in doppelter Hinsicht. Er ist Grenzbegriff zunächst gegen den Begriff des Gedichts. Das Gedichtete unterscheidet sich als Kategorie ästhetischer Untersuchung von dem Form-Stoff-Schema entscheidend dadurch, daß es die fundamentale ästhetische Einheit von Form und Stoff in sich bewahrt und anstatt beide zu trennen, ihre immanente notwendige Verbindung in sich ausprägt. Dies kann im folgenden, da es sich um das Gedichtete einzelner Gedichte handelt, nicht theoretisch, sondern nur am einzelnen Fall bemerkt werden. Und zu einer theoretischen Kritik des Form- und Stoff-Begriffs in der ästhetischen Bedeutung ist auch hier nicht der Ort. In der Einheit von Form und Stoff teilt also das Gedichtete eines der wesentlichsten Merkmale mit dem Gedicht selbst. Es ist selbst nach dem Grundgesetz des künstlerischen Organismus gebaut. Vom Gedicht unterschieden ist es als ein Grenzbegriff, als Begriff seiner Aufgabe, nicht schlechthin noch durch ein prinzipielles Merkmal. Vielmehr lediglich durch seine größere Bestimmbarkeit: nicht durch einen quantitativen Mangel an Bestimmungen, sondern durch das potentielle Dasein derjenigen, die im Gedicht aktuell vorhanden sind und andrer. Das Gedichtete ist eine Auflockerung der festen funktionellen Verbundenheit, die im Gedichte selbst waltet, und sie kann nicht anders entstehen als durch ein Absehen von gewissen Bestimmungen; indem hierdurch das Ineinandergreifen, die Funktionseinheit der übrigen Elemente sichtbar gemacht wird. Denn es ist durch das aktuelle Dasein aller Bestimmungen das Gedicht derart determiniert, daß es nur noch als solches einheitlich auffaßbar ist. Die Einsicht in die Funktion setzt aber die Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten voraus. So besteht die Einsicht in die Fügung des Gedichts in dem Erfassen seiner immer strengeren Bestimmtheit. Auf diese höchste Bestimmtheit im Gedicht hinzuführen, muß das Gedichtete von gewissen Bestimmungen absehen.
Durch dieses Verhältnis zur anschaulichen und geistigen Funktionseinheit des Gedichts zeigt sich das Gedichtete als Grenzbestimmung gegen dieses. Zugleich ist es aber Grenzbegriff gegen eine andere Funktionseinheit, wie denn stets ein Grenzbegriff als Grenze zwischen zwei Begriffen nur möglich ist. Diese andere Funktionseinheit ist nun die Idee der Aufgabe, entsprechend der Idee der Lösung, als welche das Gedicht ist. (Denn Aufgabe und Lösung sind nur in abstracto trennbar.) Diese Idee der Aufgabe ist für den Schöpfer immer das Leben. In ihm liegt die andere extreme Funktionseinheit. Das Gedichtete erweist sich also als Übergang von der Funktionseinheit des Lebens zu der des Gedichts. In ihm bestimmt sich das Leben durch das Gedicht, die Aufgabe durch die Lösung. Es liegt nicht die individuelle Lebensstimmung des Künstlers zum Grunde, sondern ein durch die Kunst bestimmter Lebenszusammenhang. Die Kategorien, in denen diese Sphäre, die Übergangssphäre der beiden Funktionseinheiten, erfaßbar ist, sind noch nicht vorgebildet und haben am nächsten vielleicht eine Anlehnung an die Begriffe des Mythos. Grade die schwächsten Leistungen der Kunst beziehen sich auf das unmittelbare Gefühl des Lebens, die stärksten aber, ihrer Wahrheit nach, auf eine dem Mythischen verwandte Sphäre: das Gedichtete. Das Leben ist allgemein das Gedichtete der Gedichte – so ließe sich sagen; doch je unverwandelter der Dichter die Lebenseinheit zur Kunsteinheit überzuführen sucht, desto mehr erweist er sich als Stümper. Diese Stümperei als »unmittelbares Lebensgefühl«, »Herzenswärme«, als »Gemüt« verteidigt, ja gefordert zu finden, sind wir gewohnt. An dem bedeutenden Beispiel Hölderlins wird deutlich, wie das Gedichtete die Möglichkeit der Beurteilung der Dichtung gibt, als durch den Grad der Verbundenheit und Größe seiner Elemente. Beide Kennzeichen sind untrennbar. Denn je mehr eine schlaffe Ausdehnung des Gefühls die innere Größe und Gestalt der Elemente (die wir annähernd als mythisch bezeichnen) ersetzt, desto geringer wird die Verbundenheit, desto mehr entsteht – sei es ein liebenswertes, kunstloses Naturerzeugnis, sei es ein kunst- und naturfremdes Machwerk. Das Leben liegt als letzte Einheit dem Gedichteten zum Grunde. Je früher aber die Analyse des Gedichts, ohne auf Gestaltung der Anschauung und Konstruktion einer geistigen Welt zu stoßen, auf das Leben selbst als sein Gedichtetes führt, desto – im engeren Sinne – stofflicher, formloser, unbedeutender erweist sich die Dichtung. Während die Analysis der großen Dichtungen nicht zwar auf den Mythos, aber auf eine durch die Gewalt der gegeneinanderstrebenden mythischen Elemente gezeugte Einheit als eigentlichen Ausdruck des Lebens stoßen wird.
Von dieser Natur des Gedichteten als Bezirkes gegen zwei Grenzen zeugt die Methode seiner Darstellung. Ihr kann es nicht um den Nachweis sogenannter letzter Elemente zu tun sein. Denn solche gibt es innerhalb des Gedichteten nicht. Vielmehr ist nichts andres als die Intensität der Verbundenheit der anschaulichen und der geistigen Elemente nachzuweisen und zwar zunächst an einzelnen Beispielen. Aber eben in diesem Nachweis muß sichtbar sein, daß es sich nicht um Elemente, sondern um Beziehungen handelt, wie ja das Gedichtete selbst eine Sphäre der Beziehung von Kunstwerk und Leben ist, deren Einheiten selbst durchaus nicht erfaßbar sind. Das Gedichtete wird sich so als die Voraussetzung des Gedichts, als seine innere Form, als künstlerische Aufgabe zeigen. Das Gesetz, nach dem alle scheinbaren Elemente der Sinnlichkeit und der Ideen sich als Inbegriffe der wesentlichen, prinzipiell unendlichen Funktionen zeigen, wird das Identitätsgesetz genannt. Damit wird die synthetische Einheit der Funktionen bezeichnet. Sie wird in ihrer jeweils besonderen Gestalt als ein Apriori des Gedichts erkannt. Die Ermittelung des reinen Gedichteten, der absoluten Aufgabe, muß nach allem Gesagten das rein methodische, ideelle Ziel bleiben. Das reine Gedichtete würde aufhören Grenzbegriff zu sein: es wäre Leben oder Gedicht. – Ehe die Anwendbarkeit der Methode für die Ästhetik der Lyrik überhaupt, vielleicht auch für fernere Bezirke geprüft ist, verbieten sich weitere Ausführungen. Erst dann kann sich klar ergeben, was Apriori des einzelnen Gedichts, was ein solches des Gedichts überhaupt oder gar andrer Dichtungsarten, oder selbst der Dichtung überhaupt ist. Deutlicher aber wird sich zeigen, daß über lyrische Dichtung das Urteil, wenn nicht zu beweisen, so doch zu begründen ist.
Zwei Gedichte Hölderlins, »Dichtermut« und »Blödigkeit«, wie sie uns aus der Reife- und Spätzeit überkommen sind, werden nach dieser Methode untersucht. Sie wird im Verlaufe die Vergleichbarkeit der Gedichte erweisen. Eine gewisse Verwandtschaft verbindet sie, sodaß man von verschiedenen Fassungen sprechen könnte. Eine Fassung, die zwischen die früheste und späteste gehört (»Dichtermut« zweite Fassung) bleibt als unwesentlicher hier unbesprochen.
Die Betrachtung ergibt für die erste Fassung eine beträchtliche Unbestimmtheit des Anschaulichen und Unverbundenheit im einzelnen. So ist der Mythos des Gedichts vom Mythologischen noch durchwuchert. Das Mythologische erweist sich als Mythos erst in dem Maße seiner Verbundenheit. An der inneren Einheit von Gott und Schicksal ist der Mythos erkennbar. Am Walten der ἀνάγκη. Ein Schicksal ist Hölderlin in der ersten Fassung seines Gedichtes Gegenstand: der Tod des Dichters. Er besingt die Quellen des Mutes zu diesem Tode. Dieser Tod ist die Mitte, aus der die Welt des dichterischen Sterbens entspringen sollte. Das Dasein in jener Welt wäre der Mut des Dichters. Aber hier ist nur der wachsamsten Ahnung ein Strahl dieser Gesetzlichkeit aus einer Welt des Dichters fühlbar. Schüchtern erhebt sich erst die Stimme, einen Kosmos zu singen, dem der Tod des Dichters den eignen Untergang bedeutet. Der Mythos bildet sich vielmehr aus der Mythologie. Der Sonnengott ist der Ahn des Dichters und sein Sterben ist das Schicksal, an dem der Tod des Dichters, erst gespiegelt, wirklich wird. Eine Schönheit, deren innere Quelle wir nicht kennen, löst die Gestalt des Dichters – kaum minder die des Gottes – auf, anstatt sie zu formen. – Noch begründet sich der Mut des Dichters seltsam aus einer andern, fremden Ordnung. Aus der Verwandtschaft der Lebendigen. Von ihr gewinnt er Verbundenheit mit seinem Schicksal. Was hat dem dichterischen Mut die Volksverwandtschaft zu bedeuten? Nicht fühlbar wird im Gedicht das tiefere Recht, aus dem der Dichter seinem Volk, den Lebendigen, sich anlehnt und ihnen verwandt fühlt. Wir wissen diesen Gedanken einen der tröstenden der Dichter, wissen ihn besonders teuer Hölderlin. Dennoch kann jene Naturverbundenheit allem Volke uns hier nicht begründet sein als Bedingung dichterischen Lebens. Warum feiert – und mit höherem Recht – der Dichter nicht das Odi profanum? Dies darf, muß gefragt werden, wo die Lebendigen noch keine geistige Ordnung begründen. – Höchst erstaunlich greift, mit beiden Armen, der Dichter in fremde Weltordnungen, nach Volk und Gott, seinen eignen, den Mut der Dichter in sich aufzurichten. Aber der Gesang, das Innerliche des Dichters, die bedeutende Quelle seiner Tugend, СКАЧАТЬ