Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter Benjamin страница 210

Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

Серия:

isbn: 9789176377444

isbn:

СКАЧАТЬ dir setzen – eben habe ich dich berührt, und mir ist, als hätte ich schon Jahre geruht.

      die dirne Du machst mich unruhig. Wenn ich neben dir läge, könnte ich nicht schlafen.

      das genie Jede Nacht sind Menschen bei dir im Zimmer. Mir ist, als hätte ich sie alle empfangen und sie hätten mich freudlos angesehen und wären gegangen.

      die dirne Gib mir deine Hand – an deiner schlafenden Hand fühle ich, daß du all deine Gedichte jetzt vergaßest.

      das genie Ich denke nur an meine Mutter. Darf ich dir von ihr erzählen? Sie hat mich geboren. Sie hat geboren wie du: hundert tote Gedichte. Sie hat ihre Kinder nicht gekannt, wie du. Ihre Kinder haben mit fremden Menschen gehurt.

      die dirne Wie die meinen.

      das genie Meine Mutter hat mich immer angesehen, mich gefragt, mir geschrieben. Ich habe an ihr alle Menschen verlernt. Alle wurden mir Mutter. Alle Frauen hatten mich geboren, kein Mann hatte mich gezeugt.

      die dirne So klagen alle, die bei mir schlafen. Wenn sie mit mir in ihr Leben blicken, scheint es ihnen wie dicke Asche bis zum Halse emporzustehen. Niemand hat sie gezeugt und zu mir kommen sie, um nicht zu zeugen.

      das genie Alle Frauen, zu denen ich komme, sind wie du. Sie haben mich tot geboren und wollen von mir Totes empfangen.

      die dirne Aber ich bin die Todesmutigste. (Sie gehen schlafen.)

      VI

      Die Frau hütet die Gespräche. Sie empfängt das Schweigen und die Dirne empfängt den Schöpfer des Gewesenen. Aber niemand wacht über die Klage wenn Männer sprechen. Ihr Gespräch wird Verzweiflung, es erschallt im tauben Raum, und lästernd greift es in die Größe. Zwei Männer sind bei einander immer Aufrührer, am Ende greifen sie zu Feuer und Beil. Sie vernichten die Frau durch die Zote, das Paradoxon notzüchtigt die Größe. Die Worte gleicher Geschlechter vereinigen sich und peitschen sich auf durch ihre heimliche Zuneigung, ein seelenloser Doppelsinn steht auf, schlecht verhüllt durch die grausame Dialektik. Lachend steht die Offenbarung vor ihnen und zwingt sie zum Schweigen. Die Zote siegt, die Welt war aus Worten gezimmert.

      Nun müssen sie aufstehen und ihre Bücher erschlagen und sich ein Weib rauben, sonst werden sie heimlich ihre Seelen erwürgen.

      VII

      Wie sprachen Sappho und ihre Freundinnen? Wie kam es, daß Frauen sprachen? Denn die Sprache entseelt sie. Die Frauen empfangen keine Laute von ihr und keine Erlösung. Die Worte wehen über die Frauen hin, die beieinander sind, aber das Wehen ist plump und tonlos, sie werden geschwätzig. Ihr Schweigen thront aber über ihrem Reden. Die Sprache trägt die Seele der Frauen nicht, denn sie vertrauten ihr nichts; ihr Vergangnes ist nie beschlossen. Die Worte fingern an ihnen herum, und irgend eine Fertigkeit antwortet ihnen geschwind. Aber nur im Sprechenden erscheint ihnen die Sprache, der gequält die Leiber der Worte preßt, in die er das Schweigen der Geliebten abbildete. Worte sind stumm. Die Sprache der Frauen blieb ungeschaffen. Sprechende Frauen sind von einer wahnwitzigen Sprache besessen.

      VIII

      Wie sprachen Sappho und ihre Freundinnen? – Die Sprache ist verschleiert wie das Vergangene, zukünftig wie das Schweigen. Der Sprechende führt in ihr die Vergangenheit herauf, verschleiert von Sprache empfängt er sein Weiblich-Gewesenes im Gespräch. – Aber die Frauen schweigen. Wohin sie lauschen, sind die Worte ungesprochen. Sie nähern ihre Körper und liebkosen einander. Ihr Gespräch befreite sich vom Gegenstande und der Sprache. Dennoch hat es einen Bezirk erschritten. Denn erst unter ihnen und da sie bei einander sind, ist das Gespräch selbst vergangen und zur Ruhe gekommen. Nun erreichte es endlich sich selber: Größe wurde es unter ihrem Blick, wie das Leben Größe war vor dem vergeblichen Gespräche. Die schweigenden Frauen sind die Sprecher des Gesprochenen. Sie treten aus dem Kreise, sie allein sehen die Vollendung seiner Rundung.

      Sie alle bei einander klagen nicht, sie schauen bewundernd. Die Liebe ihrer Leiber ist ohne Zeugung, aber ihre Liebe ist schön anzusehen. Und sie wagen den Anblick an einander. Er macht eratmen, während die Worte im Raum verhallen. Das Schweigen und die Wollust – ewig geschieden im Gespräch – sind eins geworden. Schweigen der Gespräche war zukünftige Wollust, Wollust war vergangenes Schweigen. Unter den Frauen aber geschah der Anblick der Gespräche von der Grenze schweigender Wollust. Da erstand erleuchtend die Jugend der dunklen Gespräche. Es erstrahlte das Wesen.

      Nachbarländer mögen in Sehweite liegen

      Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann.

      Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben

      Ohne hin und her gereist zu sein.

      Lao-Tse

      I

      Wir wollen auf die Quellen der unnennbaren Verzweiflung achten, die in allen Seelen fließen. Die Seelen horchen angespannt nach der Melodie ihrer Jugend, deren man sie tausendfach versichert. Aber je mehr sie in die ungewissen Jahrzehnte sich versenken und ihr Zukünftigstes ihrer Jugend noch einbeziehen, desto verwaister atmen sie in der leeren Gegenwart. Eines Tages erwachen sie zur Verzweiflung: der Entstehungstag des Tagebuches.

      Es stellt mit hoffnungslosem Ernst die Frage, in welcher Zeit der Mensch lebt. Daß er in keiner Zeit lebt haben die Denkenden immer gewußt. Die Unsterblichkeit der Gedanken und Taten verbannt ihn in Zeitlosigkeit, in deren Mitte lauert der unbegreifliche Tod. Zeitlebens umspannt ihn Leere der Zeit und dennoch Unsterblichkeit nicht. Gefressen von den mannigfaltigen Dingen entschwand die Zeit ihm, jenes Medium ward zerstört, in der die reine Melodie seiner Jugend schwellen sollte. Die erfüllte Stille in der seine späte Größe reifen sollte wurde ihm entwendet. Ihm entwendete sie der Alltag, unterbrach mit Geschehnis, Zufall und Verpflichtung tausendfältig jugendliche Zeit, unsterbliche, die er nicht ahnte. Drohender noch erhob hinter der Alltäglichkeit sich der Tod. Jetzt erscheint er noch im Kleinen und tötet täglich, um weiter leben zu lassen. Bis eines Tages der große Tod aus Wolken fällt, wie eine Hand, die nicht mehr leben läßt. Von Tag zu Tag, Sekunde zu Sekunde selbsterhält sich das Ich, klammert sich an das Instrument: die Zeit, die es spielen sollte.

      Der also Verzweifelte entsann sich seiner Kindheit, damals war noch Zeit ohne Flucht und Ich ohne Sterben. Er sieht und sieht hinab in jene Strömung, aus der er aufgetaucht war, und er verliert langsam, endlich und erlösend sein Begreifen. In solcher Vergessenheit, unwissend was er meint und doch erlöster Meinung entstand das Tagebuch. Dies unergründliche Buch eines nie gelebten Lebens, Buch eines Lebens, in dessen Zeit alles, was wir unzulänglich erlebten, sich zum Vollendeten verwandelt.

      Das Tagebuch ist eine Befreiungstat, heimlich und schrankenlos in ihrem Siege. Kein Unfreier wird dieses Buch verstehen. Da das Ich verzehrt von Sehnsucht nach sich selbst, verzehrt vom Willen zur Jugend, verzehrt von Machtlust über die Jahrzehnte, die kommen werden, verzehrt von Sehnsucht, sich gesammelt durch die Tage hinzutragen, von Lust des Müßigganges entzündet zu dunklem Feuer – da es sich dennoch verflucht sah in die Zeit des Kalenders, der Uhren und Börsen und kein Strahl einer Zeit der Unsterblichkeit sich zu ihm senkte – da begann es selber zu erstrahlen. Strahl, wußte es, bin ich selber. Nicht die trübe Innerlichkeit jenes Erlebenden, der mich Ich nennt und mit Vertrautheit martert, sondern Strahl des andern, das zu bedrängen mich schien und das ich doch selbst bin: Strahl der Zeit. Zitternd steht ein Ich, das wir aus unsern Tagebüchern nur kennen, am Rande der Unsterblichkeit, in die es hinabstürzt. Es ist ja Zeit. In ihm, dem Ich, dem Geschehnisse widerfahren, Menschen begegnen, Freunde, Feinde und Geliebte, in ihm verläuft die unsterbliche СКАЧАТЬ