Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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II
Neigend erstrahlt in Zeit die Geliebte der Landschaft,
Aber verdunkelt verharrt über der Mitte der Feind.
Seine Flügel schläfern. Der schwarze Erlöser der Lande
Haucht sein kristallenes: Nein und er beschließt unsern Tod.
Zögernd tritt selten das Tagebuch heraus aus der Unsterblichkeit seines Abstandes und schreibt sich. Lautlos jubelt es auf und sieht über die Schicksale hin, die klar und zeitgewoben in ihm liegen. Durstend nach Bestimmtheit treten die Dinge auf ihn zu, erwartend Schicksal aus seiner Hand zu empfangen. Sie senden ihr Ohnmächtigstes der Hoheit entgegen, ihr Unbestimmtestes erfleht Bestimmung. Sie grenzen das menschliche Wesen ein durch ihr fragendes Dasein, vertiefen Zeit; und indem sie selber auf das Äußerste den Dingen geschieht, vibriert eine leise Unsicherheit in ihr, welche fragend der Frage der Dinge Antwort gibt. Im Wechsel solcher Vibrationen lebt das Ich. Dies ist der Inhalt unserer Tagebücher: zu uns bekennt sich unser Schicksal, weil wir es auf uns schon längst nicht mehr bezogen – wir Verstorbenen, die wir auferstehen in dem, was uns zustößt.
Es gibt aber einen Ort jener Auferstehungen des Ich, wenn die Zeit in immer weitere und weitere Wellen es hinaussendet. Das ist die Landschaft. Als Landschaft umgibt uns alles Geschehen, denn wir, die Zeit der Dinge, kennen keine Zeit. Nur Neigungen der Bäume, Horizont und Schärfe der Bergrücken, die plötzlich voll Beziehung erwachen, indem sie uns in ihre Mitte stellen. Die Landschaft versetzt uns in ihre Mitte, es umzittern uns mit Frage Wipfel, umdunkeln uns mit Nebel Täler, bedrängen uns mit Formen unbegreifliche Häuser. Diesem allen widerfahren wir, ihr Mittelpunkt. Es bleibt aber von aller Zeit, da wir erzittern, eine Frage uns im Innern: sind wir Zeit? Hochmut verlockt uns zum Ja – dann verschwände die Landschaft. Wir wären Bürger. Aber der Bann des Buches läßt uns schweigen. Einzige Antwort ist, daß wir einen Pfad beschreiten. Aber uns heiligt im Schreiten der gleiche Umkreis. Und wie wir antwortlos mit der Bewegung unseres Leibes die Dinge bestimmen, Mitte sind und uns wandernd fernen und nähern, lösen wir Bäume und Felder aus ihresgleichen, überströmen sie mit der Zeit unseres Daseins. Feld und Berge bestimmen wir in ihrer Willkür: sie sind unser vergangenes Sein – so prophezeite die Kindheit. Wir sind zukünftig sie. Die Landschaft empfängt in der Nacktheit der Zukünftigkeit uns die Großen. Entblößt erwidert sie die Schauer der Zeitlichkeit, mit der wir die Landschaft bestürmen. Hier erwachen wir und haben am Morgenmahle der Jugend teil. Die Dinge sehen uns, ihr Blick schwingt uns ins Kommende, da wir ihnen nicht antworten sondern sie beschreiten. Um uns ist Landschaft wo wir die Berufung verwarfen. Tausend Juchzer der Geistigkeit umtosten die Landschaft – da sandte lächelnd das Tagebuch den einzigen Gedanken ihnen entgegen. Durchdrungen von Zeit atmet sie vor uns, bewegt. Wir sind bei einander geborgen, die Landschaft und ich. Wir stürzen von Nacktheit in Nacktheit. Wir erreichen uns gesammelt.
Die Landschaft entsendet uns die Geliebte. Uns begegnet nichts als in Landschaft und in ihr nichts als Zukunft. Sie kennt nur das einzige Mädchen, das schon Frau ist. Denn es tritt in das Tagebuch mit der Geschichte seiner Zukunft. Wir starben schon einmal miteinander. Wir waren ihr schon einmal völlig gleich. Wenn wir ihr widerfuhren im Tode, so widerfährt sie uns doch im Leben, abertausendmal. Vom Tode her ist jedes Mädchen die geliebte Frau, die uns Schlafenden immer im Tagebuch begegnet. Und ihre Erweckung geschieht zur Nacht – unsichtbar dem Tagebuche. Dies ist die Gestalt der Liebe im Tagebuche, daß sie uns in der Landschaft begegnet, unter sehr hellem Himmel. Die Inbrunst ist zwischen uns ausgeschlafen und die Frau ist Mädchen, da sie unsere unverbrauchte Zeit, die sie sammelte in ihrem Tode, jugendlich zurückschenkt. Die stürzende Nacktheit, die in der Landschaft uns überfällt, wird gleichgehalten von der nackten Geliebten.
Als unsere Zeit uns aus dem Abstand verstieß in Landschaft und auf der behüteten Bahn des Gedankens uns die Geliebte entgegenschritt, fühlten wir Zeit, die uns aussandte, gewaltig gegen uns wieder fluten. Einschläfernd ist dieser Rhythmus der Zeit, der von allerweltenwärts zu uns heimkehrt. Wer ein Tagebuch liest, schläft darüber ein und erfüllt, was das Schicksal dessen war, der es schrieb. Wieder und wieder beschwört das Tagebuch den Tod des Schreibers und sei es im Schlafe des Lesenden: Unser Tagebuch kennt nur einen Leser, der wird zum Erlöser, indem das Buch ihn bezwingt. Wir selber sind der Leser oder unser Feind. Er fand keinen Eingang in das Königtum, das um uns blühte. Er ist nichts anderes als das vertriebene, geläuterte Ich, unsichtbar in der unnennbaren Mitte der Zeiten verweilend. Er gab sich nicht dem Strom des Schicksals hin, das uns umfloß. Wie die Landschaft sich uns entgegenhob, sonderbar von uns beseeligt, wie die Geliebte uns vorüberfloh, ehmals von uns gefraut, steht inmitten des Stroms, aufrecht wie sie, der Feind. Aber mächtiger. Er sendet Landschaft und Geliebte uns entgegen und ist der unermüdliche Denker der Gedanken, die uns nur kommen. Vollendet klar begegnet er uns, und während die Zeit sich in die stumme Melodie der Abstände verbirgt, ist er am Werke. Plötzlich erhebt er sich im Abstand wie die Fanfare und sendet uns dem Abenteuer entgegen. Er ist nicht weniger als wir Erscheinung der Zeit, aber der gewaltigste Reflektor unsrer selbst. Blendend vom Wissen der Liebe und den Schauungen ferner Lande bricht er rückkehrend in uns ein und stört unsere Unsterblichkeit auf zu immer fernerer und fernerer Sendung. Er kennt die Reiche der hundert Tode, die die Zeit umgeben und will sie in Unsterblichkeit ertränken. Nach jedem Anblick und jeder Todesflucht kehren wir zu uns heim als unser Feind. Von keinem andern Feind sagt jemals das Tagebuch, weil vor der Feindschaft unsres erlauchten Wissens jeder Feind versinkt, stümperhaft neben uns, die wir niemals unsere Zeit erreichen, immer hinter sie flüchten oder vorwitzig sie überflügeln. Immer die Unsterblichkeit aufs Spiel setzend und sie verlierend. Dies weiß der Feind, er ist das unermüdliche, mutige Gewissen, das uns stachelt. Unser Tagebuch schreibt das seinige, während er tätig ist in der Mitte des Abstandes. In seiner Hand ruht die Waage unserer Zeit und der unsterblichen. Wann wird sie einstehen? Wir werden uns selbst widerfahren.
III
Die Feigheit des Lebenden, dessen Ich mannigfaltig allen Abenteuern beiwohnt und ständig sein Antlitz verbirgt im Kleid seiner Würde – sie mußte zuletzt unerträglich werden. So viele Schritte wir in das Königreich des Schicksals taten, so oft wandten wir uns rückwärts – ob wir auch unbeobachtet wahrhaft seien: da ermüdete einmal die unendlich gekränkte, gekrönte Hoheit in uns, sie wandte sich, grenzenlos fortan voll Verachtung für das Ich, das man ihr gegeben. Sie bestieg einen Thron im Imaginären und wartete. Mit großen Lettern schrieb der Griffel ihres schlafenden Geistes das Tagebuch.
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