Die Seeweite. Albert T. Fischer
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Название: Die Seeweite

Автор: Albert T. Fischer

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783907301012

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СКАЧАТЬ das Wasser vom Abwasch fand in der Schweinetränke Verwertung. Leute, die kein Schwein mästeten, hielten vielleicht Ziegen oder Kaninchen, denen sie sämtliche Abfälle oder Reste aus der Küche verfütterten. Umsichtige Väter legten jedes einigermassen verwertbare Stück Eisen oder Holz zur Seite. Die Mütter sammelten jeden Fetzen Tuch, jeden gefundenen Knopf. Jede Hose, jedes Hemd, jeder Schuh, jede Socke und alles, was mehr oder weniger Schaden genommen hatte, wurde so lange wie möglich geflickt.

      Die Menschen auf den Strassen und in den Gassen hatten eines gemeinsam: Sie waren in der Regel schlank oder gar mager. Trotzdem wurden sie im Durchschnitt weniger alt als die Leute 50 Jahre später, und sie waren in der Mehrheit auch kaum fröhlicher, wohl aber kleinlich und neidisch. Zwar reden heute viele Leute von der guten alten Zeit, aber das sind Märchen oder Wahrnehmungsschwächen – ernsthafte Untersuchungen ergäben mit Sicherheit ein anderes Bild.

      Im Sommer trugen viele Kinder kaum Schuhe, die Buben kannten weder Leibchen noch Unterhosen – Hemd und kurze leichte Hosen genügten. Die Mädchen trugen rundum Schürzen. Man hatte für den Werktag kein zweites Set, und so waren zerrissene oder verschmutzte Kleider oft ein kleines Unglück, für das die Mütter ihre Kinder in der Regel bestraften. Die allermeisten hingegen besassen ein Sonntagskleid und auf Hochglanz gewichste Schuhe für Kirchgang, Kinderlehre und Spaziergang mit den Eltern am Nachmittag. Da zeigten auch die Erwachsenen ihre besten Kleider – nur allzu auffallend durften diese nicht sein. Wenn sich einfache Leute auffällig anzogen, wenn etwa die Nachbarin auch zwischen den Sonntagen die Seidenbluse trug, gab es bestimmt eine fragwürdige Geschichte zu entdecken, eine unbedachte Verschwendung auszumachen oder gar eitle Hoffart zu vermuten und zu bereden.

      Ab der Mitte des Jahrhunderts hatten alle Häuser Strom und fliessendes Wasser. Da und dort gingen die Leute damit aber um, als ob Strom und Wasser eher zum Sparen als zum Gebrauch eingerichtet wären. Die Lampen verbrauchten viel zu viel Strom und brannten nie unnötig lange. In den Küchen stand zwar ein Herd mit elektrischen Platten und Backofen, aber noch immer weder Boiler mit Warmwasser noch Kühlschrank oder gar Geschirrspüler. Noch gab es keine Waschmaschinen, kaum Badezimmer und oft nicht einmal eine Waschküche. Die Schlafzimmer waren nicht heizbar und im Winter belegten sich die Fenster mit Eisblumen. Für Wärme in Wohnzimmer und Küche sorgten in der Regel kleine Öfen, in denen man Holz aus dem Wald verbrannte – wenn unbedingt nötig.

      Für wirklich arme Leute war der Armen- und Waisenvogt zuständig. Er versuchte, mit möglichst wenig Geld die ganz Mittellosen zu versorgen. Er war auch befugt, uneinsichtige Väter aus dem Wirtshaus zu holen und zu irgendeiner schlecht bezahlten Arbeit zu verdonnern – als Hilfsarbeiter in einer Fabrik, als Taglöhner bei einem Bauern oder als Forstgehilfe im Wald. Auch war er dafür zuständig, Waisen und Halbwaisen bei Bauern zu verdingen, in Heime zu stecken und mittellose Witwen als Mägde zu vermitteln. Wer jemals in diese Mühle geriet, konnte ihr kaum mehr entrinnen. Angebotene Arbeit zu verweigern galt als unentschuldbares Vergehen und führte zum Abbruch jeder weiteren Hilfe.

      Arbeit gab es auch bei Handwerkern und Gewerbetreibenden. Doch Ungelernte – und das waren fast ausnahmslos alle Frauen, aber auch sehr viele Männer – wurden in den Fabriken zu niedrigsten Löhnen für neun oder zehn Stunden an sechs Tagen die Woche angestellt. Nur in den Tabakfabriken gab es noch viel einfache Handarbeit, während in der Textilindustrie die Bedienung einfacher Maschinen, die ihrerseits den Arbeitsrhythmus diktierten, verlangt war.

      In den Dörfern besass man kaum Autos und nur selten kam jemand mit einem solchen Vehikel dahergerattert. Nur die Kantonsstrasse war asphaltiert. Auf den anderen Strassen hinterliessen die seltenen motorisierten Karossen nach wie vor riesige Staubwolken. Die Leute begannen sich daran zu gewöhnen. Schliesslich waren es meist hoch vermögende oder gar einflussreiche Leute, denen man ausnahmslos mit Respekt zu begegnen hatte. Die Staubwolken gehörten zum Fortschritt. Zunehmend hatten diese Reichen oder Wichtigen auch ein Telefon, und wer sich als bescheidener Nachbar besonders anständig benahm, durfte im Notfall um eine Verbindung bitten oder wurde gar im Falle eines Anrufs benachrichtigt. Wer allerdings irgendwelchen aufmüpfigen Ideen frönte, als streikbereiter Gewerkschafter und Sozi galt oder sonst den besitzenden Bürgern suspekt war, musste den Weg bis zur Post in Kauf nehmen. So etwa lebte es sich in Sulzach am Ende des Zweiten Weltkriegs, als Waldemar, Rolf und Dölf Kinder waren.

      Inzwischen sind mehr als 50 Jahre vergangen. Es gibt weder Schmied noch Wagner, weder Kürschner noch Küfer mehr, auch Molkerei und Käserei sind eingegangen. Noch sind da zwei Metzgereien, aber hier werden schon längst keine Rinder, Kälber oder Schweine mehr geschlachtet. Die Metzger beziehen ihr Fleisch vom grossen Schlachthof der Region – alle vom gleichen. Noch gibt es vier Bäckereien, aber nur eine von ihnen bäckt ihr Brot wirklich selbst und wenn schon, dann mit vorgemischtem Mehl – die Feinbackwaren beziehen ohnehin alle von der Grossbäckerei. Grossverteiler haben die kleinen Läden längst verdrängt. Aus Dutzenden kleiner Bauernhöfe sind ein paar Grossbetriebe geworden, die das Land ausserhalb der Agglomeration mit riesigen Traktoren bebauen. Ohne Subventionen und geschützte Preise müssten wohl auch sie aufgeben.

      Spinnerei, Siederei und Tabakbetriebe sind infolge Konkurs, Umnutzung oder Aufgabe längst geschlossen. Die Walzi kämpft um ihr Überleben, die Besitzer konnten ihr Werk noch rechtzeitig an eine britische Gruppe verkaufen. Mosterei und Hutfabrik sind eingegangen – zahllose Betriebe scheiterten an der ungenügenden Wertschöpfung im schweizweiten, europaweiten, ja weltweiten Wettbewerb. Die hohen Kamine wurden gesprengt, sie verbreiten keinen Russ mehr. Auch die Zementfabrik im Nachbartal ist sauber geworden wie das Wasser im See. Aus seinem 100 Meter hohen Turm stösst das Kernkraftwerk jahraus und jahrein Wasserdampf in den Himmel – ein Merkmal fürs ganze Land.

      Aus Arbeitern sind Bürolisten geworden, die in der Stadt oder in stadtnahen Büros am Schreibtisch und am Telefon sitzen. Wer es zu dieser Minikarriere nicht geschafft hat, muss sich Sorgen machen, Stellen mit einfachen Arbeiten sind überall rar geworden.

      Hunde und pflegeleichter Rasen prägen den Alltag der Klein- und Kleinstfamilien in ihren putzigen Häuschen. Handy, Fernseher, Internet und Games bestimmen das Leben auch in den Wohnungen in den Wohnblöcken. Ein übergrosser Anteil von Kindern aus kaputten Welten und Familien fordert Lehrerinnen und Lehrer heraus. Die lokalen Politiker geben sich besorgt. Ihre Macht ist klein geworden und ihr Anspruch immer grösser – angeblich sind die Fremden schuld an allem.

      Der Bau einer katholischen Kirche war in Sulzach schon in den 20er Jahren von Gesetzes wegen nicht mehr zu verhindern, auch wenn sich noch so viele ängstliche Reformierte dagegen auflehnten. Als während des Baubooms der 50er und 60er Jahre in der ganzen Seeweite mindestens ein halbes Dutzend weiterer katholischer Kirchen entstand, hatte es niemanden gekümmert. Im Gegenteil, auch reformierte Bauunternehmer hatten mit grossem Eifer ihren Beton in die Fundamente gegossen und dafür gutes Geld genommen. Das Thema, noch durch die ganze erste Jahrhunderthälfte da und dort hitzig diskutiert, hatte sich zumindest für den Grossteil der Bevölkerung in Nichts aufgelöst.

      Doch jetzt fürchten sich die modernen und aufgeklärten Menschen der Seeweite vor Moscheen und Minaretten. Sie reden sich ein, Terroristen und Bombenbastler, Vielweiberer und Frauenschläger aus dem Orient und Afrika wollten die Macht im Land übernehmen. Ganz einfach.

      Nun, nichts ist einfach.

       Rolf

      Als Rolf im Sommer 1947 zehn Jahre alt wurde, glaubte er, dass es die Spinnerei unten am See schon immer gegeben hatte und immer geben würde wie den See, die Berge, die Kirche oder das Schulhaus. Einst, das hatte er in der Schule erst gelernt, wurden die Maschinen der Fabrik durch ein Wasserrad mit dem Wasser vom Sulzbach angetrieben. Später konnte eine stärkere Dampfmaschine schnellere und bessere Spinnmaschinen bewegen. Und schon viele Jahre vor seiner Geburt hatten die Besitzer, die Aasbachs, die ganze Fabrik elektrifizieren lassen. Jetzt – das wusste Rolf von seinem Vater – drehten elektrische Motoren die Wellen an der Decke der Fabrikhallen. Von СКАЧАТЬ