Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
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Die Zahl der Einwohner hat sich in den letzten 100 Jahren vor allem durch Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft vervielfacht. Die früher sozusagen selbstverständliche, einer ungeschriebenen Hackordnung folgende dörfliche Kontrolle über jeden Einzelnen ist den kleinen wirklichen und vermeintlichen Machthabern entglitten. Wie die einzelnen Orte, so sind auch viele Menschen vor allem in den letzten 50 Jahren, zu einer neuen Zeit aufgebrochen. Ihre Berufe, Ansichten, Bräuche und Wünsche haben sich verändert. Andere versuchen zu verharren, misstrauen jeder Öffnung der Zäune und der Überbrückung alter Gräben. Sie sehen in allem Aufweichung, Verflachung oder gar Preisgabe bewährter Werte. Ältere Bewohner sind zur Anpassung vielleicht gar nicht mehr in der Lage. Wenn sie nach Achstadt fahren, fahren sie in die Stadt, und viele verachten das noch weiter entfernte Zürich als Grossstadt, hinter der alles andere bereits Ausland ist.
Für allzu viele endet mit der Seeweite auch ihr Horizont. Früher brach die Seeweite bereits beim unsichtbaren Zaun zur katholischen Nachbarschaft ab. Und jenseits des Zauns waren die Leute um kein Haar besser. In den Reformierten und Protestanten mit all ihren unzähligen Sekten sahen sie des Himmels unwürdige Verführte, Abtrünnige oder gar Ketzer. Gewiss, man wollte nach dem verlorenen Sonderbundkrieg schon zusammen Schweizer sein, zum gemeinsamen Wohl, und die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten der unermüdlich fleissigen Calvinisten und Zwinglianer verachtete auch niemand, aber im Herrschaftsbereich ihrer Kirchen wollten die schwarzen Pfaffen möglichst wenig liberales Unternehmertum dulden, um so das fromme Volk vor der Sünde aufklärerischer Freiheit und Selbstbestimmung zu schützen. So blieb die Landschaft südlich der Sulzachsee noch weitere 100 Jahre geprägt von lieblichen Bauerndörfern mit blühenden Obstbäumen und päpstlicher Kirchturmpolitik.
Erstaunlicherweise liegt der Kern von Sulzach nicht direkt an seinem lieblichen See, sondern leicht darüber. Vor 100 Jahren befand sich das verschlafene Dorf ohnehin im Abseits. Der See war weder als Wasserstrasse noch sonst von wirtschaftlicher Bedeutung. Sich an seinem Ufer auszuziehen, um stundenlang in der Sonne zu liegen oder gar in seinem Wasser zu schwimmen wäre niemandem eingefallen. Man hatte anderes zu tun. Selbst die Kinder wurden neben Schulstunden und Kirchgang oft zur stundenlangen Heimarbeit angehalten.
Auch für die Anmut der Gegend hatten nur wenige ein Auge oder gar Zeit. So bildete sich das Dorf entlang der einzigen, von Norden nach Süden führenden, im Sommer staubigen und im Winter meist matschigen oder gefrorenen Strasse. Erst die der Strasse entlang gebaute Eisenbahn brachte eine für den Aufschwung der Gegend wichtige Verbindung mit den anderen Dörfern, der Stadt, dem ganzen Land und damit der modernen Zeit. Für die Eisenbahn wurde Sulzach zur Endstation. Das katholische Schwarzfeld, das nächste Dorf im Süden, musste noch lange Jahre auf einen Anschluss an die weite Welt warten und blieb eben auch für weitere Jahrzehnte ein unberührtes Bauerndörfchen.
In Sulzach hingegen wurden binnen kurzer Zeit aus kleinen Gewerbebetrieben grössere Unternehmen. Zwar gab es schon lange eine ansehnliche Mühle, eine Sägerei und die Spinnerei unten am See, weil man dort das Wasser vom Sulzbach nutzen konnte, aber nach der Jahrhundertwende kamen, auch dank der neuen elektrischen Energie, beinahe Jahr für Jahr neue Betriebe dazu.
Neu wurden Aluminium und Buntmetalle geschmolzen, gegossen, getrieben, gewalzt und gezogen. In einem anderen Betrieb entstanden Drehbänke und Werkzeugmaschinen, die sich im ganzen Land einen guten Ruf erwarben. Neben der wachsenden Spinnerei versuchten junge Unternehmer mit Strickwaren reich zu werden. Viele kleine und einzelne grössere neue Betriebe stellten Zigarren und die im Alltag beliebten Stumpen her. Letztere lieferten ihre Abfälle und Säfte zur weiteren Verarbeitung einem Betrieb, der sich auf die Herstellung chemischer Produkte spezialisierte. Eine Mosterei versuchte über die Region hinaus Kunden im ganzen Land zu gewinnen. Sie erinnerte vielleicht am stärksten an die ländliche Vergangenheit des Dorfes. Zur Mosterei brachten die Bauern der weiteren Umgebung die Tonnen von Fallobst, aus dem der Sulzacher Apfelsaft gepresst, als Süssmost konserviert oder in Fässern zu Apfelwein vergoren wurde. Und alle diese Betriebe stellten neue Leute ein.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begannen die aufkommenden Autos die Dörfer auf ihrer Durchfahrt mit Gestank und riesigen Staubwolken zu belasten, und bei schlechtem Wetter bewarfen sie die Leute am Strassenrand mit Dreck. In den folgenden Jahren wurde die Strasse nach Achsttadt – unter anderem mit tatkräftiger Hilfe italienischer Arbeiter – ausgebaut und ein Jahrzehnt später asphaltiert. Mit der Verbreiterung der Strassen entstanden die ersten Trottoirs für die Fussgänger. Trotzdem verfluchten viele Dörfler, vor allem die Bauern, den aufkommenden Verkehr, vor dem ihre Pferde scheuten oder gar durchbrannten und waren kaum bereit, den neuen Komfort zu würdigen oder gar die Schwerarbeit der Tschinggen (so nannten sie die Italiener) wirklich wahrzunehmen.
Inzwischen wurde aus der langsam durch die Gegend ratternden elektrischen Kleinbahn, auf die Jugendliche – sie machten sich daraus einen Sport – anfänglich auch während der Fahrt aufspringen konnten, nach und nach eine schnelle Regionalbahn, die im Halbstundentakt alle Dörfer bediente.
Allerdings blieb das Dorfbild von Sulzach bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der Landwirtschaft und den vielseitigen Gewerbebetrieben und Krämerläden geprägt. Fünf Schmiede verpassten den Pferden der Bauern und Fuhrleute die neuen Hufeisen. Zwei Wagner hatten genug zu tun, neue Leiterwagen zu bauen und andere zu flicken oder hin und wieder gar eine vornehme neue Kutsche aus der Werkstatt zu fahren. Zur Sägerei am See gehörte auch eine Zimmerei, die sich vor allem auf den Bau von Chalets spezialisiert hatte. Vier Schreinereien im oberen Dorfteil stellten auf Bestellung allerlei Möbel her, waren aber doch eher für Arbeiten im Wohnungsbau eingerichtet; sie lieferten und montierten individuell und nach Mass Türen, Fenster, Jalousien, Holzdecken und anderes. Schon seit Ende der 20er Jahre stritten sich zwei Elektrogeschäfte mit allen möglichen, mehr oder weniger fairen Mitteln um Aufträge. Vor allem der Anlagenbau für die Fabriken mit all den vielen Lampen und Motoren warf Auftragsbrocken mit guten Margen ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfrage nach Haushaltmaschinen massiv an. Jedermann kaufte Staubsauger, Kühlschränke und Waschautomaten im so genannten Fachgeschäft. Das Handwerk bekam wirklich einen goldenen Krämerboden.
Trotz der Fabriken und Gewerbebetriebe lebten auch in den 50er Jahren noch immer viele Leute mindestens teilweise von kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Oft arbeitete der Mann in einem Betrieb – meistens als Hilfsarbeiter für ein sehr kleines Einkommen. Die Frau erzog, bekochte und pflegte zu Hause meistens mehrere Kinder, nähte für sie Kleider und machte von Hand grosse Wäsche, daneben hielt sie zwei drei Kühe, setzte und häckelte die Kartoffeln, besorgte das Futter, putzte die Runkeln, mästete die Sau, pflückte und verkaufte das Obst.
Noch immer war das Leben der meisten Menschen – wie üblich in jener Zeit – vom natürlichen Mangel an allem und jedem geprägt, aber auch vom Fehlen der Ressourcen während der beiden grossen Kriege. Das Denken und der Umgang mit den Gütern im Alltag gründeten auf Sparsamkeit, Umsicht, Vorsicht, Kontrolle und Geiz. Und für viele gab es die in unserer modernen Zeit und näheren Umgebung kaum mehr vorstellbare Sorge um das tägliche Brot.
Hunger mussten zwar auch einfache Leute kaum leiden. Aber frisches Brot kam selten auf den Tisch, und Fleisch – Gehacktes, Geschnetzeltes, Innereien oder Wurst – gab es zwei, vielleicht drei Mal die Woche. Wirklich arme Leute lebten im Alltag oft von Milchkaffee, gebratenen oder gesottenen Kartoffeln und Fallobst.
Obst war vergleichsweise teuer. Wer eigene Bäume hatte, war im Vorteil. Im Gegensatz zu Holz und Ähren konnte Obst kaum auf den Wiesen gesammelt werden, denn die Bauern pflückten selbst alle Bäume leer und sammelten das Fallobst für die Mosterei.
Bis in die 50er Jahre kannten viele Kinder, und meistens auch ihre Eltern, Südfrüchte wie Bananen, Orangen, Khaki, Feigen und Datteln nur vom Hörensagen. Das Gleiche galt auch für Schokolade und andere Süssigkeiten.
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