Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
isbn:
Lieber Bypass-Schreiber
(Entschuldige die Anrede, aber sie erscheint mir passend.)
Herzlichen Dank für deine guten Wünsche.
Susanne und ich haben die Weihnachtstage still und allein verbracht. Hingegen hat sie am Sonntag danach ihre Cafeteria nicht geöffnet, eventuelle Gäste mit dem Schild «Wegen familiärem Anlass geschlossen» vertrieben und ihre ganze Sippe zu einem Brunch eingeladen. Sie wolle meine Rückkehr feiern, hat sie gesagt.
Alle Geladenen, mit den Kindern zusammen mehr als 20 Leute, sind gekommen.
Nun, der Tag war zwar ermüdend, aber auch beglückend und ich habe Susanne dafür gedankt. Ich glaube, auch für sie war er wichtig, ein bescheidener Anlass, um unser gemeinsames Leben zu festigen, ohne grosse Worte, ohne Versprechungen. Wir haben darüber nicht gesprochen. Zu gross sind alle meine Vorbehalte gegen feste Bindungen, obwohl sie mir vielleicht durchs ganze Leben fehlten. Durch Susanne habe ich in diesen Tagen zum ersten Mal Liebe, Familie und Heimat erlebt.
Am zweiten Januar haben meine Schwester Rös und ihre Freundin Yvonne Gretler bei mir hereingeschaut. Sie hatten zusammen Yvonnes Mutter im Pflegeheim besucht. Was die beiden Frauen von der alten Martha, über sie und aus ihrem Leben erzählten, war so überraschend und aufregend, dass ich am Tag danach, etwas beruhigt, begann, ihre Geschichten aufzuschreiben. Du findest sie unter den übrigen Dateien.
Mein lieber Freund,
Seit Neujahr geht es mir nicht sehr gut.
Die Schmerzen sind wieder da, und ich nehme dagegen starke Mittel, lebe danach während Stunden in einer Art Dämmerzustand. Ohne Sauerstoff würde ich vermutlich sehr schnell ersticken.
Ich will und werde sterben und fühle mich deswegen nicht besonders unglücklich. Ich würde für Susanne zunehmend eine unzumutbare Belastung oder eben ein Fall fürs Pflegeheim, und in kurzer Zeit wäre ich ein armer Mann.
Schliesslich sende ich Dir im Anhang neben den neuen Geschichten nochmals eine Anzahl älterer Dateien.
Bitte schicke, was ich Dir hier überlasse und zuvor überlassen habe, nicht zurück. Aus der Einsicht heraus, selbst damit nichts mehr gestalten zu können, habe ich alles gelöscht, auch das, was Erna nicht aufhörte zu suchen: Die Tagebücher ihrer Mutter und das Jammerheft ihres Bruders mit allen mütterlichen Erinnerungen und Kommentaren. Keine Ahnung, warum Erna damals nicht auf die Idee gekommen war, Ilses Festplatte zu durchstöbern. Sie hatte den Computer der Schule geschenkt und ich habe ihn dort installiert, alles nochmals kopiert und dann gelöscht, endgültig gelöscht.
Ich überlasse dir alles, auch was ich einst für den roten Kurt sammelte und schrieb und ihm glücklicherweise nie zugänglich machte. Zudem vieles, was mir Susanne aus ihrem und dem Leben ihrer Eltern und Brüder erzählte.
Wie ich dir schon in der Klinik sagte, sind es, mit einzelnen Ausnahmen, wilde Knäuel von schlecht gesponnenem Garn. Ich weiss, du wirst alles mit Sorgfalt und Feingefühl entwirren.
Wenn es dir gelänge, aus all den rohen Faserbändern ein feines Garn zu spinnen, wäre das mehr als ich erwarten dürfte. Ich werde es selbst mit Bestimmtheit nicht mehr können. Dass du niemandes Würde verletzen wirst, traue ich dir zu. Vielleicht findest du bei der Arbeit Trost für die eigenen Stolpersteine, Empörung und Trauer um die fragile oder gar beschädigte Beziehung zu deinen erwachsenen Kindern.
Allerdings, Kinder kommen in meinen Erinnerungen zu kurz. Ein bisschen habe ich die Jugend von Sarah und Lukas begleiten können und dabei erlebt, wie fragil junge Seelen sind. Sie tragen immer die Narben ihrer frühen Verletzungen, wie ein Baum, und geben sie ihrerseits weiter. So oder anders. Vielleicht weisst du mehr und du wirst darüber schreiben.
In diesen Tagen habe ich mich oft an unsere Gespräche erinnert. Sie haben mir gut getan. Es entstand da so etwas wie Freundschaft, ein Gefühl, das ich nur in meiner Jugend erlebt habe. Ich möchte dir dafür danken.
Zum neuen Jahr wünsche ich dir nochmals alles Gute, auch gute Gesundheit.
Neidlos.
Rolf
Leider habe ich danach weder spontan geantwortet noch ihn besucht. Ich kopierte die neuen, umfangreichen Dateien ungelesen zu den anderen. Ich war voll mit mir selbst und den Erinnerungen an meine Eltern beschäftigt und in ein paar Tagen wollten Valerie und ich im Engadin Freunde besuchen.
Mitte Januar starb Rolf Schneider. Er sei: «Friedlich eingeschlafen, nach langer, mit grosser Geduld ertragener Krankheit» – Susanne hatte mir Ende des Monats «nach dem stillen Begräbnis im engsten Freundeskreis» die mit dem einfachen Text bedruckte Karte geschickt. Als ich mich hinsetzte, um ihr einen Brief zu schreiben, erinnerte ich mich an Rolfs Dateien auf meiner Festplatte und begann, mich hineinzulesen, anfänglich bloss, um etwas Schönes, Tröstliches oder gar Geistreiches für meinen Brief zu finden. Je mehr ich las, desto mehr begannen mich vor allem seine erst kurz davor geschickten Texte zu interessieren. Da fand sich wirklich mehr als in meiner eigenen kümmerlichen Vergangenheit!
Ich schrieb Susanne ein paar tröstliche Worte und versprach, sie gelegentlich in ihrer Cafeteria zu besuchen.
Erst Monate später begann ich Rolfs «Garn aus der Sulzacher Spinnerei» – so nannte er seine Texte – zu ordnen, die Erzählungen um Susanne, Erna, Rös und Waldemar und die Geschichte ihrer Familien und der Seeweite zu entwirren. Nicht alles, was ich fand, passte lückenlos zusammen und so habe ich über Seiten auch mein eigenes Garn hineingesponnen. Jede Ähnlichkeit mit Rolfs Wirklichkeit – so gewollt sie war – ist eine mehr oder weniger glaubwürdige Annäherung und somit zufällig geblieben. Zudem, alle Namen sind ohnehin frei erfunden.
Die Seeweite
Im weitesten Sinn beginnt die Seeweite am Südfuss des Jura, und dazu gehört auch Achstadt, die Kleinstadt mit ihrem bemerkenswerten historischen Kern, einem erstaunlich vielfältigen kulturellen Angebot, mit Schulen bis zur mittleren Reife, einer Fachhochschule für Ingenieure, einem florierenden Gewerbe und einer zwar nicht besonders grossen, aber doch vielseitigen und prosperierenden Industrie.
Von hier aus gegen Osten, Süden und Westen breiten sich viele vormals ländliche Dörfer aus, deren einstige unzählige kleine Bauernhöfe zum grössten Teil verschwunden sind und die jetzt eine anscheinend ungeplante, unübersehbare, nach und nach mit der Ausdehnung ausufernde Ansammlung von mehr oder weniger in Reihen oder losen Haufen gebauten Wohnhäusern, Kaufhäusern, Industrie-, Klein- und Handwerksbetrieben bilden. Viele Dörfer sind in den letzten 50 Jahren mehr und mehr zusammengewachsen und kaum noch auseinander zu halten. Aus ihnen sind stadtähnliche Gebilde geworden. Nur einzelne markante Bauten, Kirchen und Plätze deuten bisweilen auf die einstigen Dorfkerne hin.
Hügelzüge mit Wäldern und Wiesen trennen noch immer die sanften Täler und damit auch die gewachsenen Siedlungen, denen in der Weite zwei geradezu liebliche Seen so etwas wie eine fliessende Grenze setzen.
Als eine Art Parklandschaft oder Erholungsraum mit Spiegeln – so könnte die Idylle sehen, wer von Sulzach her, dem letzten grösseren Dorf vor dem Sulzachsee, über den Heimberg wandert und die unbestritten reizvolle Weite geniesst. Dieser Weite schliesslich verdankt die Gegend ihren Namen. Je nach Wetterlage bildet, bei guter Sicht, weit hinter den Seen die Alpenkette eine imposante, hin und wieder gar dramatische, СКАЧАТЬ