Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
isbn:
Selbstverständlich verbrachten wir nicht die ganze Zeit mit den Geschichten, Verdiensten und Versäumnissen aus unserem Leben. Als in jenen Tagen in Istanbul die Bomben hochgingen, sprachen wir über Palästina und den Krieg im Irak, diese Katastrophe, die die Regierung unter dem sektiererisch frömmelnden Präsidenten Bush vom Zaun gerissen hatte und die uns zuhauf Stoff bot, über die Sorgen der Gegenwart zu reden, etwa über Gewalt im Alltag, nicht nur im weit entfernten Bagdad, sondern auch hier, in den Familien, unter den Halbwüchsigen, überall.
Wie sollen Menschen Krieg, wirklichen Krieg, ablehnen, wenn sie es gewohnt sind, bei Chips und Bier Gewalt in heroisch verbrämten Filmen als Unterhaltung zu konsumieren, wobei sich die kriegswütigen Szenen von den realen kaum unterscheiden lassen? Wir waren uns einig: Amerika hatte für einen grossen Teil der Menschheit die Hoffnung auf eine gerechtere und freiere Erde zerstört.
Wir orteten Mängel in unserem Land, meckerten mit unterschiedlichen Ansichten über die Politik und ihre Träger, sprachen über gelesene Bücher und gesehene Filme, lästerten über die Fernsehprogramme und was uns ganz allgemein im Klinikalltag begegnete. Mitunter versuchten wir auch in tiefere Schichten vorzustossen.
Rolf glaubte nicht mehr an Gott. Wie könne dieser in lauter Liebe unser Leben begleiten, wie wir jammervoll oder gar fordernd beteten, während er gleichzeitig Millionen unschuldiger Kinder an Hunger, Krankheit und Elend sterben lasse? Etwa, weil diese kleinen Seelen noch gar nicht beten konnten? Er verstehe, dass Menschen die fromme Mutter Teresa bewunderten und ihr ein Denkmal setzten. Er verstehe aber nicht, warum Menschen für Teresas arme Seele beten sollten. Gott könne doch Teresas gute Taten gar nicht übersehen haben. Warum beteten Menschen für einen verstorbenen Papst, wo er doch ohnehin Gottes Stellvertreter war, ihm also kein göttliches Unrecht geschehen konnte? Verstehen könne er allenfalls, sollte es dieses grässlich kleinkarierte Jüngste Gericht tatsächlich geben, dass Menschen für die armen, verirrten Seelen aus begründeter Angst vor einem Fehlurteil beten wollten. Aber die Frage müsse doch erlaubt sein: «Kann Gott ein Fehlurteil fällen, ein Blatt in einem umfangreichen Aktenbündel übersehen? Doch wohl kaum, doch nicht Gott!»
Er könne nicht glauben, was er nicht verstehe, und er habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben, vielleicht sei es schmerzhaft, zu erlöschen. Doch vor dem Nicht-mehr-Sein fürchte er sich nicht. Seele und ewiges Leben seien Illusionen und Erfindungen überheblicher Menschen, die nicht bereit seien, alles aufzugeben, loszulassen und in aller Bescheidenheit einfach zu gehen, auch durch die eigene Entscheidung, den eigenen Vollzug.
Alle müssten wir sterben. Sieben Milliarden Menschen lebten auf der Erde, diese sieben Milliarden würden sterben, alle kommenden Milliarden dazu – und ungezählte Milliarden seien schon gestorben. «Natürlich ist es für jeden von uns das Ende der Welt, aber eben einer kleinen Welt – und wofür diese Welten stehen? Keine Ahnung! Ich weiss auch nicht, warum tödliche Unfälle oder Verbrechen mehr Aufmerksamkeit gewinnen als der schleichende gemeine Tod Kranker oder still Eingeschlafener. Da sterben landauf und landab pro Tag zwei Leute im Auto und zweihundert im Bett, sozusagen ein tägliches Massensterben, doch niemand fordert für sie die Schlagzeile des Tages oder landesweite Trauer.»
Zudem, die Sinnfrage mache eben keinen Sinn, unsere Welt sei nur eine Welt von vielen und das Grosse fände sich im Allerkleinsten und umgekehrt. Vielleicht seien die Milchstrassen und Spiralnebel nichts anderes als Moleküle einer der anderen Welten, und der Urknall nur ein leiser Bang, ein kleines Phänomen im Sandkasten der Unendlichkeit gewesen. Er habe dieses und vieles mehr auch dem katholisch-ungarischen Spitalbruder erzählt und ihm vorgeschlagen, Feuerbach und Deschner zu lesen. Letzterer behaupte, nur die Ohnmacht des heutigen Klerus schütze dessen Gegner davor, verbrannt zu werden. Danach hätte der Geistliche ihn nicht mehr besucht, wozu auch.
Ich hatte Rolfs letztem Bekenntnis nichts beizufügen.
Susanne würde ihn am Freitagabend abholen. Im Augenblick bestehe für ihn kein Anlass, in der Klinik zu bleiben, sofern er sich zu Hause an die vorgegebenen Regeln und Medikamente halte. Er freue sich auf die Zeit zu Hause und auf die kommenden Jahre mit seiner Freundin. Am Nachmittag, als er sein Zimmer geräumt hatte, besuchte er mich.
Wir bestellten nochmals Kaffee und er übergab mir eine Anzahl CDs. Sie enthielten vieles, was er in den vergangenen Jahren zusammengeschrieben hatte. Er bat mich, mit den Inhalten diskret umzugehen. Es würde ihn freuen, wenn ich ihm bei Gelegenheit einen Kommentar oder eine Idee für die weitere Verwendung seiner Texte und Notizen machen könnte. Ich versprach ihm, dies gerne zu tun und bat um genügend Zeit. Er machte keine Einschränkung. «Vielleicht kannst du daraus einen Roman machen», lächelte er, und ich fühlte mich ausgelacht.
Dann kam Susanne. Wir nahmen Abschied wie Freunde, die sich morgen wiedersehen wollen.
Mich selbst wollte Valerie erst am Montag abholen. Sie hatte vor, das Wochenende mit Freunden in den Bergen zu verbringen. So blieb ich die beiden letzten Tage allein und ohne Besucher.
Am Samstag schob ich die eine oder andere von Rolfs CDs in meinen Laptop, las einzelne der unzusammenhängenden Texte und kopierte sie auf meine Festplatte. Auf Anhieb fand ich alles etwas wirr, ein zum Teil bizarres Durcheinander mit enormen Handlungs-, Orts- und Zeitsprüngen. Inhaltlich gab es da nicht nur Bemerkungen zu Rolfs eigener Familie, sondern auch zu seiner gescheiterten Freundschaft mit Erna und deren neuem Freund Aldo, dem jüngeren Bruder von Susanne, ja der ganzen, offenbar ausufernden Familie Amrein: eine Fülle von Ansätzen, auch zu Eifersucht und Wut …
Neben unzähligen Notizen, Kurzaufsätzen und Kommentaren las ich unzusammenhängende Aufzeichnungen zu Ilse Pfister, der offenbar umstrittenen Mutter seiner einstigen Freundin Erna. Das Ganze erschien mir als undurchdringliches Dickicht, das zu entwirren mich zu viel Aufwand kosten würde. Die Scheiben wollte ich Rolf irgendwann einmal zurückschicken oder zurückbringen und ihn ermuntern, einfach daran zu arbeiten, bis sich ein Konzept aufdränge oder aus der Sache ergebe, nahm ich mir vor.
In der Nacht zum Sonntag hatte es stark geschneit. Am Morgen zogen leichte, von einer Flut von Sonnenstrahlen durchschienene Nebelschwaden über die Juralandschaft. Die wunderbare Stimmung lockte mich in den weiss verschneiten Wald. An Wochenenden gab es keine Therapien, keine Untersuchungen, keinen Arztbesuch, keine begleiteten Wanderungen. Ich war somit zeitlich nur an die Mahlzeiten gebunden. Zum ersten Mal seit meiner Operation wagte ich es, die Klinik allein zu verlassen und durch die Gegend zu streifen. Ich stapfte im bisher unberührten Schnee durch eine märchenhafte, fantastisch sonnendurchstrahlte Welt, vorbei an weiss und silbern glitzernden Spitzen verschneiter Tannen, bergwärts zur nächsten Jurahöhe. Ich spürte zwar meinen Puls, aber da war keine Enge, mein ganzer Körper erwärmte sich angenehm und ich fühlte mich geheilt, gesund und stark. Eine tief aus dem Inneren heraufströmende Dankbarkeit machte mich weinen, und ich liess es ohne jegliche Scham zu. Auf der Höhe angekommen schaute ich ins weite Land, über die Stadt, die Wälder, die beinahe ineinander fliessenden Dörfer und hinüber auf den in der Sonne glitzernden See.
Schön strahlte das weite offene Land, das ich mit Rolf, seiner Geschichte, seinen Geschichten und seiner Welt teilte. Schön, noch immer zu leben, zu hoffen, zu lieben. In vier Wochen war Weihnachten und danach begann ein neues Jahr. Später würde ich nochmals versuchen, Rolfs etwas roh gesponnenes Garn besser zu verstehen.
Zu Weihnachten schickte СКАЧАТЬ