Die Seeweite. Albert T. Fischer
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Название: Die Seeweite

Автор: Albert T. Fischer

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783907301012

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СКАЧАТЬ sich zu Beginn der 50er Jahre dank einer Kapitalhilfe der Firma und mit der kleinen Erbschaft nach dem Tod von Marthas Eltern ein neues Reihenhäuschen mit Gemüsegarten in einer Arbeitersiedlung kaufen. Im bescheidenen Haus gab es zwar kein eigentliches Badzimmer, aber eine kleine Waschküche mit Badewanne und einer wassergetriebenen, Wäsche schonenden Schleuder. Besonders Letztere galt als ausserordentlicher Luxus, ersetzte sie doch das Kräfte zehrende Auswinden der grossen Leintücher und Anzüge.

      Anfänglich wunderten sich die Leute im Dorf, warum Martha als Verheiratete Arbeit in der Fabrik angenommen hatte. Marthas Eltern besassen eine kleine Metzgerei, für die der Vater landauf und landab als Störmetzger und die Tochter vor ihrer Hochzeit als Verkäuferin gewirkt hatte. Niemand wusste, dass Karl Gretler schon früh ein ausserordentlich eifersüchtiger Mann war. Er selbst hatte seine Martha im Laden ihrer Eltern gefreit, hin und wieder eine Wurst gekauft und ihr schöne Augen gemacht, wie man damals sagte – sie war darauf eingegangen und hatte ihn zuletzt geheiratet. Doch die gelegentlichen männlichen Kunden waren ihm ein Dorn im Auge. Seine Fantasie reichte aus, um ihr die Arbeit in der Metzgerei zu vergällen und ihr in seiner Fabrik Arbeit zu suchen, um sie ständig im Auge behalten zu können. Natürlich wusste er nichts von seinem wirklichen Motiv, so hätten sie einfach mehr voneinander, meinte er, und es sei auch im Alltag sehr praktisch.

      Mit seiner Eifersucht soll er sie ihr Leben lang mit Verdächtigungen, Unterschiebungen und auch Schlägen drangsaliert haben, erzählte ihre Tochter Yvonne später. Doch Martha beklagte sich nicht, auch nicht bei ihren Eltern. Ihr Vater hätte vermutlich ihr die Schuld gegeben oder ihr mindestens Vorwürfe gemacht.

      Andererseits versuchte Karl immer wieder, sich zurückzunehmen und seinem Wahn oder was immer es war, nicht einfach nachzugeben. Immerhin waren Marthas Eltern, wenn auch nicht wirklich vermögend, so doch Gewerbler mit etwas Hintergrund. Und sie waren schon ziemlich alt, Martha eine Nachzüglerin. Irgendwann einmal würde ihr nicht gerade grossartiges Erbe beiden doch das Leben erleichtern.

      Karl Gretler hatte das richtig gesehen. Nach dem Tod von Marthas Eltern beschloss die Erbgemeinschaft, in der selbstverständlich die Männer der insgesamt vier Schwestern das Sagen hatten, das Haus zu verkaufen und das Geld zu verteilen. Die Teile reichten für jede Seite als Anzahlung für ein eigenes kleines Häuschen. Den Knatsch um die Verteilung von Möbeln, Geschirr und Wäsche überliessen die Männer den Frauen, denen prompt die Feilscherei über Lein- und Tischtücher, Bettstätten und Matratzen zu lautstarken Auseinandersetzungen geriet. Die Leute lebten noch immer in einer Zeit des Mangels.

      Beim Umzug ins neue Haus war Waldemar bereits 13 Jahre alt. Bisher hatte er in einer kleinen Hütte im Schrebergarten Kaninchen gehalten und die gemästeten Tiere jeweils vor Weihnachten zu verkaufen versucht. Schon immer sammelte er auf der Strasse Rossmist als Dünger für den Gemüsegarten. Er war ein fleissiger Junge und besuchte die Sekundarschule. Trotzdem hielt Karl nicht allzu viel von ihm. Die Quälereien waren offensichtlich: Hänseleien kleinster Irrtümer wegen, Ohrfeigen für Nichtigkeiten, Vorwürfe nach Schwierigkeiten in der Schule, Entzug von kleinen Vergnügungen oder gar Mahlzeiten für Verspätungen oder bloss wegen schmutziger Schuhe. Dann jeweils nannte der Vater Waldemar «Waldi», seinen Dackel, und da war kein bisschen Spass dabei, sondern blanker Hohn. Nie hatten seine Geschwister ähnlich zu leiden, Yvonne schon gar nicht. Martha konnte die Vorgänge nachfühlen und ihren Ältesten hin und wieder in Schutz nehmen, aber das war nicht wirklich wirksam. Waldemar schämte sich eher darüber.

      Mit 13, mit dem Umzug ins neue Haus, kamen für Waldemar die Jahre, in denen er sein Elend wahrzunehmen begann und darunter entsetzlich litt, vor allem nachts. Und das änderte sich nie, nie. Und nie wurde daraus Wut und Auflehnung, sondern immer nur Trauer über sein Unvermögen, seine Ungeschicktheit, sein lautes Atmen, seine langsame Art zu reden und seine Sehnsucht nach Zuneigung, vielleicht nach Liebe.

      Sein einziger Trost war seine Freundschaft mit Gerard Fürst. Die Fürsts waren nicht nur Walzwerkbesitzer, sie lasen auch Bücher, machten Musik und gingen in die Stadt ins Theater. Seit der ersten Klasse sassen die beiden Buben in der gleichen Schulbank. Zugegeben, Waldemar fühlte, wie viel weiter und schneller Gerard in allen Fächern war. Gerard konnte schon früh Klavier spielen und sprach fliessend Englisch. Seine Mutter war Amerikanerin – mit einer grossen Begeisterung für Frankreich. Immer wieder lud Gerard ihn zu sich nach Hause ein, in das grosse Haus über dem See, um mit ihm zu spielen. Gerard hatte jede Menge Spielsachen, ganze Armeen von Zinnsoldaten mit zugehörigen modernen Waffen wie amerikanischen Panzern, Kanonen und Jeeps. Gerard besass auch echt aussehende Revolver, und ein echt schiessendes Luftgewehr. Aber Gerards Spielwiese war noch viel grösser. Er besass beispielsweise einen Metallbaukasten mit Hunderten von Teilen, aus denen sich die fantastischsten Maschinen bauen liessen, und auf dem Regal in seinem Zimmer standen jede Menge Bücher. Gerard konnte nicht nur schwimmen wie ein Fisch, sondern auch reiten und Tennis spielen. Es gab einfach nichts, was Gerard nicht schaffte.

      Manchmal setzte sich Gerards Mutter an den Flügel und spielte mit ihm vierhändig. Sie ermunterte Waldemar, auch ein Instrument zu lernen. Doch Vater Karl hielt davon nichts. Ein Instrument und Musikstunden könnten sie sich nicht leisten, er sei eben nicht Direktor. Gerards Mutter gab Waldemar daraufhin eine Gitarre, die bisher mehr oder weniger unbenutzt herumgelegen hatte. Sie konnte recht gut damit spielen, «nur Akkorde», lächelte sie, aber das könne er schnell lernen und vielleicht dazu singen. Es ging erstaunlich gut. Waldemar brachte die Gitarre nach Hause und übte ziemlich regelmässig. Sein Vater brummte, aber er mochte sich dagegen nicht auflehnen, schliesslich war der Fürst sein Arbeitgeber.

      Als beide Jungen die Sekundarschule besuchten, fühlte Waldemar, wie sich sein Freund langsam von ihm entfernte. Gerard würde mit Sicherheit auf ein Gymnasium gehen, gar nach Amerika. Ähnliches hatten sie bereits besprochen, und Gerard war in den Frühlingsferien mit seinen Eltern und der kleinen Schwester nach Amerika geflogen, mit einer einzigen Zwischenlandung auf den Azoren, hatte ihm Gerard erklärt. Gerard musste der ganzen Klasse von seinem Flug mit der Super-Constellation nach New York, dem Leben in der riesigen Stadt mit den Wolkenkratzern, und ganz besonders vom Empire State Building, dem höchsten Haus der Welt, erzählen. Danach spielte er auf dem Klavier einen Boogie-Woogie, mit dem er seine Mitschüler beinahe zum Toben brachte. Gerard war wirklich ein Wunderknabe. Waldemar war stolz darauf, neben ihm sitzen zu dürfen.

      Nur hin und wieder, wenn ihm irgendetwas in die Quere kam oder gerade nicht passte, wurde Gerard furchtbar zornig. Gerard wurde nicht nur beneidet, bewundert und respektiert, sondern auch gefürchtet. Nein, er war keinesfalls streitsüchtig oder gar ein Rohling. Er hatte nur eine genaue Vorstellung, wie die Dinge vernünftigerweise zu sein hatten, und alles, was gegen seine Vorstellungen verstiess, musste sich fügen, durch Zureden, Argumentieren oder eben durch Sanktionen.

      Gerard ging eben ein Jahr aufs Gymnasium in Zuoz. Er hatte diese Schule gegen Amerika durchgesetzt und sich inzwischen in Irene, ein Mädchen aus der gemeinsamen Sekundarschulklasse, verliebt. In den Ferien besuchte der vielversprechende Jüngling seine erträumte Liebe. Sie wies ihn ab. Der 16-Jährige erschoss sich vor ihren Augen. Nicht alle seine Revolver waren Spielzeuge gewesen.

      Es war ein schweres Unglück. Die Fürsts verbaten sich jeden Besuch. Gerards Mutter ging vorübergehend zur Pflege in ein Heim, und danach verreiste sie für Monate nach Amerika zu ihren Eltern. Der Fürst wurde unnahbar hart. Immerhin hatte er versucht, etwas für die traumatisierte Irene zu tun. Doch all das war sehr schwierig. Die Familie des Mädchens wusste sich kaum zu helfen, letztlich brachten sie die entsetzte Jugendliche in ein Internat in der Gegend von Neuenburg.

      Für Waldemar war der Tod seines Freundes ebenfalls ein herber Schlag. Nicht nur, weil er ihn vermisste, er hatte sich an Gerards Abwesenheit schon während der Zeit in Zuoz gewöhnt, sondern weil er nicht verstehen konnte, warum Gerard seinen Willen so radikal durchsetzen wollte. War Verliebtsein, war Liebe, von der immer alle redeten und die er selbst noch nie verspürt hatte, wirklich so gefährlich?

      Nach Gerards Tod wurde das Verhältnis zwischen Waldemar und seinem Vater noch schwieriger. СКАЧАТЬ