Название: Die Seeweite
Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907301012
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Hier aber wurde landauf und landab daran herumgenörgelt, und immer noch gab es viel zu viele Leute, die den Franzosen lobhudelten. Dabei hatten diese doch das Land einst unter Napoleon heimgesucht, alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, den Bürgern und Bauern die Vorräte weggefressen, die jungen Burschen eingezogen und nach Russland gezwungen, um sie an der Beresina in Schlamm und Kälte verrecken zu lassen. Was der Wilhelm aus Preussen tat, war nichts als eine vielleicht etwas späte, aber verdiente und somit verständliche Retourkutsche. Im verlorenen Krieg und ganz besonders in den halbverhungerten Soldaten der Bourbaki-Armee sahen die Schweizer eindrückliche Beweise für den Niedergang der «Grande Nation». Frankreich war eindeutig dabei, das Wettrennen um Macht, Reichtum und Fortschritt in Forschung, Wirtschaft und militärischer Schlagkraft auf dem Kontinent zu verlieren. Darüber konnten weder spektakuläre Weltausstellungen noch gewaltige Bauprogramme hinwegtäuschen. Nicht umsonst waren die Franzosen mit ihrem ehemaligen Erzfeind Grossbritannien die Entente eingegangen. Das war schiere Angst, und wer genauer hinsah – auch mit den Russen verbündete sich die Entente – verstand die Signale: Einmal mehr sollte das Deutsche Reich in die Zange genommen und erwürgt werden.
Dem Doktor war auch die Heirat von Korpskommandant Wille mit einer Bismarck nicht entgangen. Das war wirklich eine nennenswerte Allianz. Kein anderer hätte vermocht, den deutschen Kaiser zu den grossen Manövern ins Appenzellerland einzuladen. Gewiss stand der Name Bismarck dabei Pate. Als Wille schliesslich General wurde, waren für Doktor Müller und seine Schweiz alle Optionen offen, und er hätte dem Carl Spitteler damals gerne eine andere Sicht der Dinge eröffnet, als dieser 1914 bei Kriegsbeginn «seinen Standpunkt» dem Parlament vortrug.
Mit dem Krieg von 1914 hatte der «Seespiegel» seine Durststrecke überstanden. Die Leute waren neugierig auf Nachrichten von der grossen Tragödie. Allerdings musste sich die Redaktion nach der Decke strecken. Die Zeitung konnte sich zweimal die Woche – inklusive Anzeigen – höchstens vier bis sechs Seiten leisten, Letzteres meistens am Samstag. Allzu viel Platz für Müllers glühende Bekenntnisse gab es ohnehin nicht.
Johann selbst hatte dem Weltbild seines Schwiegervaters nicht viel beizufügen. Er war nicht sehr unglücklich über die durch die Knappheit der Mittel eng gesetzten Grenzen. Der wortreiche Überschwang des gebildeten Mannes war ihm oft suspekt. Was im Dorf zählte, das hörte er immer wieder, waren Nachrichten vom Krieg und aus der Region. Die grosse Politik interessierte nur wenige, und irgendwelche Belehrungen wollte schon gar niemand lesen. Hin und wieder gelang es ihm, den Feuereifer des Herrn Doktor zu mässigen. Im Übrigen aber standen für ihn sein erhabenes Handwerk und seine Hedwig im Vordergrund. Sie setzte sich mit den Meinungen ihres Vaters durchaus auseinander, aber politisieren wollte sie nicht, das war Männersache.
Hedwig hatte zwar die Töchterschule in der Stadt besucht, etwas über Geschichte gehört, sprach leidlich Französisch und Italienisch, hatte sehr viele erbauliche Bücher gelesen und auswendig gelernte Gedichte rezitiert. Wichtig war auch, kochen und einen Haushalt führen zu können. Natürlich wusste sie, dass die Frauen in Dänemark, Grossbritannien und offenbar auch in anderen Ländern um das Recht, an Wahlen teilzunehmen, kämpften und dass sie dieses Frauenstimmrecht da und dort gar schon erreicht hatten, aber das interessierte sie nicht weiter. Sie wollte Frau und Mutter werden und sein, und eigentlich nervten sie Auseinandersetzungen, wie sie Männer unter sich austrugen. Männer waren dabei so hart und unerbittlich, sprachen sofort von Strafmassnahmen und Krieg. Offenbar ging das nicht anders, und in einer solchen Welt wollte sie sich nicht bewegen. Die Frauen taten gut daran, sich da herauszuhalten. Das war der Konsens. Bestimmt war das Deutsche Reich etwas Grossartiges, aber sie wollte trotzdem lieber, wenigstens einmal, mit Johann nach Paris fahren. Doch daran war damals nicht zu denken. Im Mai 1912 brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt.
Nur wenige Wochen zuvor war die Titanic im eisigen Meer gesunken – ein schreckliches Unglück, einem deutschen Kapitän auf einem deutschen Schiff wäre das bestimmt nicht passiert! Der britische imperialistische Grössenwahn, verbunden mit überheblich schnoddriger Oberflächlichkeit, hatte da eindeutig überbordet, und das Unglück war gewiss auch ein Zeichen Gottes. Hedwigs Vater hatte dem Unglück in der Zeitung viel Platz eingeräumt, die Katastrophe in einem Leitartikel ausführlich kommentiert und sich dabei auch mit politischen Aspekten der Sache auseinandergesetzt. Der junge, erst seit wenigen Monaten amtierende Pfarrer Grob ging zu Pfingsten nicht nur auf der Kanzel, sondern auch mit seiner Pfingstbetrachtung im «Seespiegel» auf die göttliche Fügung der Tragödie ein. «Einmal mehr hat menschliche Überheblichkeit den Himmel herausgefordert und Gott hat diese Anmassung mit Kraft zurückgewiesen, ein Zeichen, eine Warnung gesetzt als deutliches Menetekel für die Sehenden …»
Nein, Hedwig war nicht bigott, aber so ein wenig Respekt vor der göttlichen Gerechtigkeit hatte sie schon und Pfarrer Grob war ihr durchaus sympathisch. Im Sommer taufte er ihren ersten Sohn auf den Namen Wilhelm, Hedwig hatte überhaupt nichts dagegen und ihr Vater, der Doktor Grossvater, wollte trotz seines Alters um jeden Preis Pate sein. Er sah sich letztlich als Gründer einer geschichtsträchtigen Zeitungsdynastie. Schade, meinte er bei Gelegenheit, dass Hedwigs Mutter, seine Frau, das nicht mehr erleben durfte. Sie war schon vor Jahren an Diphtherie gestorben.
Der «Pastor», wie sich Pfarrer Grob seit seiner Zeit in Dresden unter Freunden gerne nennen liess, und Hedwigs Vater teilten viele Werte. Beide waren nicht sehr glücklich über die stete Zuwanderung von Arbeitern und ihren ganzen Familien aus den Armenstuben des Landes, aus dem katholischen Hinterland wie dem Fricktal oder dem Freiamt beispielsweise. Bald schon war die katholische Diaspora in der Lage, eine eigene Kirche zu bauen. Ein im Tabakhandel reich gewordener Kaufmann hatte vor seinem Tod mit einem grossen Stück Land und einer nicht weniger grosszügigen Spende nachgeholfen. Seither hatte sich aus der Kirchgemeinde heraus gar eine Zelle der katholisch konservativen Partei gebildet, die sich mit fast jedem Zugezogenen vergrösserte und jedenfalls laufend an Einfluss gewann – nicht zuletzt wohl mit Unterstützung und Geldern der grossen Schwestern in den katholischen Kantonen.
Aber auch Österreicher aus dem Vorarlberg und dem Tirol oder Deutsche aus Bayern und Schwaben suchten hier Arbeit als Tagelöhner, Fabrikarbeiter und als Handwerker. Handwerker kamen oft als Wanderburschen, lachten sich ein Mädchen an und blieben. Schon jeder Zehnte im Land war zumeist ein katholischer Ausländer. Fast alle neuen Einwohner waren zweifellos fleissig und tüchtig, manche gründeten gar ein eigenes Geschäft. Diese Krämer und Handwerker konnten mit der Solidarität der Römisch-Gläubigen rechnen.
Pfarrer und Redaktor waren sich einig, dass die Unterwanderung durch papsthörige Katholiken politisch brisant werden könnte. Alles hatte man getan, um den Einfluss der Papstkirche auszubremsen, den Sonderbund zerschlagen, die Klöster geschlossen und die Jesuiten verjagt. Auf keinen Fall durfte man diese Errungenschaften wieder aufs Spiel setzen oder gar preisgeben. Sie störten sich keinen Augenblick daran, dass Johann Pfister ein Pfälzer, ein Deutscher war, ein Lutheraner, ein Protestant halt. Das war nicht dasselbe.
Doktor Melchior Müller freute sich über den jungen Pfarrer. Beide waren sie ein bisschen traurig, als 1918 sowohl das Reich von Wilhelm II. als auch das Reich unter Karl I., dem österreichischen Thronfolger von Franz-Joseph, zusammenbrach – obwohl sich Karl I. als überaus zeugungsfreudiger katholischer Eiferer gebärdet hatte. Einig waren sie sich auch in der Beurteilung der russischen Revolution und wie gefährlich die Entwicklung in der Schweiz sei. Da musste man eisern zupacken. Auch Johann war davon überzeugt. Zweimal pro Woche war darüber im «Seespiegel» ausführlich zu lesen. Natürlich war die weit verbreitete Armut der Faulenzer und Habenichtse oder gar der Hunger der Arbeiter ein böses Übel und somit vor allem eine Herausforderung für die christliche Nächstenliebe, aber ganz bestimmt kein Grund für Unbotmässigkeit, Aufruhr und Streik.
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