Название: Asklepios
Автор: Charlotte Charonne
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783946734703
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Stille breitete sich aus. Sie schlich über den Friedhof und schien die Luft zum Atmen zu zerdrücken. Leise stellte sich ihr ein Sopran entgegen. Mit jeder Note wurde er lauter.
“La le lu
Nur der Mann im Mond schaut zu
Wenn die kleinen Babys schlafen
Drum schlaf’ auch du …”
Sophie und Paul hatten das Lied für Emma ausgesucht. Es war das Lied, das sie am liebsten gemocht hatte und das ihre Eltern ihr immer und immer wieder hatten vorsingen müssen, wenn sie keinen Schlaf finden konnte.
Pauls Bruder Thomas fügte persönliche Worte an, die er gemeinsam mit Paul niedergeschrieben hatte. Paul und Sophie hätten dazu in diesem Moment nicht die Kraft gefunden. Auch Thomas gelang es nicht, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Er war Emmas Patenonkel gewesen und hatte es nie als Pflicht, sondern als Freude empfunden, mit Emma zu spielen und kleine Überraschungsausflüge für sie zu organisieren.
„Aus der Erde bist du genommen, der Erde geben wir dich zurück, dein Gott wird dich rufen zu neuem Leben.“ Der Pfarrer trat vor und warf dreimalig Erde in das Grab, während er sprach. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“
Paul nahm mit der freien Hand Erde auf und lies sie durch die Finger auf den Sarg rieseln. Das leise Geräusch, als die Erdbröckchen auf den Sarg fielen, machte den endgültigen Abschied schmerzhaft deutlich.
Sophie presste sich die Hände auf die Ohren.
„Sophie?“ Paul drückte ihre Seite.
Sie zeigte keine Reaktion.
Behutsam umfasste er ihre Handgelenke und zog die Hände von ihren Ohren. „Sophie, hörst du mich? Nimm die Blütenblätter und streue sie auf Emmas Weg.“
Sophie verharrte reglos. Sie starrte mit weit aufgerissen Augen auf den Sarg.
Paul umschlang wieder ihre Taille, aus Angst sie könnte stürzen. „Sophie? Die Blumen!“
Wie eine von Fäden geführte Marionette versenkte Sophie ihre Finger in der Schale mit den zartrosa Pfingstrosenblütenblättern, die Emma geliebt hatte. Mechanisch, von unsichtbaren Strängen geführt, tauchte die Hand aus dem Blättermeer auf. Langsam entkrampften sich die Finger, und Blüte für Blüte schwebte auf Emmas Sarg, bedeckte die Erde und verschmolz mit der Blumenwiese auf dem Holz.
„Komm, Sophie.“ Er lenkte sie von dem Grab weg und gab den Platz für Maria frei. Diese verabschiedete sich still von ihrer Enkeltochter. Dann ließ auch sie behutsam eine Handvoll Erde auf den Holzsarg prasseln.
Paul führte Sophie zum Auto, das vor der Kirche parkte. Sie hatten darum gebeten, von Beileidsbekundungen am Grab Abstand zu nehmen. Er öffnete die Beifahrertür und dirigierte Sophies Körper auf den Beifahrersitz. Sie schien ihre Umwelt nicht wahrzunehmen. Er startete den Motor und steuerte das Restaurant an, das sie für das gemeinsame Speisen der Trauergäste gebucht hatten. Er wusste nicht, wie Sophie den Tag überstehen sollte. Und auch nicht die Tage, Monate und Jahre, die nun folgen würden.
Kapitel 5
Ein Jahr später
Kölner Stadtschau, 31.5.2001
Lebenslang für Mord an Emma H.
Höchststrafe für Georg S.
Das Landgericht Köln hat das Urteil gegen Georg S. gefällt. Der Angeklagte wurde für den Mord an der fünfjährigen Emma H. zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht hat die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit ist eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nur in besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel schwerer Erkrankung, möglich. Eine anschließende Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der lebenslangen Haftstrafe (fünfzehn Jahre) wurde jedoch nicht verhängt.
Die Begründung für diesen Beschluss liegt in dem eingeholten psychiatrischen Gutachten, das die Kriterien für eine Sicherungsverwahrung im Falle des Georg S. nicht erfüllt sieht. Bei Georg S. besteht nach Auffassung des psychiatrischen Sachverständigen kein Hang, vergleichbare Handlungen in Zukunft aufs Neue zu begehen. Des Weiteren sei die Persönlichkeitsstörung des Mörders unter Therapie im Strafvollzug korrigierbar.
In seinem letzten Wort vor der Urteilsberatung äußerte der Angeklagte Einsicht und Reue, bat die Angehörigen des Opfers um Entschuldigung und erklärte sich bereit, das Therapie- und Hilfeangebot anzunehmen, was die Entscheidung der Richter beeinflusste.
Im April 2000 hatte Georg S. die fünfjährige Emma H. aus dem Garten ihres Elternhauses entführt. Er betäubte das Mädchen mit Chloroform und brachte es in sein nur wenige Kilometer entferntes Haus. Die Leiche des Mädchens wurde zwei Wochen später von einer Spaziergängerin und ihrem Hund in einem Waldstück entdeckt. Hinweise aus der Bevölkerung führten schließlich zur Festnahme des Mörders.
In seinem Keller stellten Polizeibeamte Sexspielzeuge sadistischer Natur wie Gummimasken, Silikon-Mundknebel und Maulsperren mit Lederbändern sowie Videos, die den Missbrauch dokumentieren, sicher.
Emma H. befand sich fünf Tage lang in der Gewalt von Georg S., bis er sie, laut Aussage des Angeklagten, erwürgte, weil sie zu stark blutete und ständig nach ihrer Mama rief.
Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein.
Kapitel 6
Drei Jahre später
„Doktor Kaiser“, meldete sich Maria, nachdem ihr Piepser ein Schrillen von sich gegeben hatte. Sie hatte bereits seit zwei Stunden Dienstschluss. Anstatt direkt nach Hause zu fahren, hatte sie es vorgezogen, im Arztzimmer zu bleiben und gemeinsam mit einem Foto von Sophie und Emma auf ihre Schuldgefühle anzustoßen, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Sie strich mit dem Zeigefinger über die Porträts und steckte das Foto zurück in die Brieftasche.
„Doktor Kaiser? Gott sei Dank! Autounfall. Notaufnahme.“ Die routinierte Stimme geizte mit Worten.
„Ich komme.“ Maria gönnte sich einen letzten Spritzer Wodka, spülte das Glas mit Wasser aus und stellte es zum Abtropfen auf das Tablett neben der Kaffeemaschine. Sie verstaute die Flasche in ihrer Umhängetasche sowie ein Pfefferminzbonbon in ihrem Mund, verließ das Arztzimmer und hechtete zum Aufzug. Dort drückte sie auf den Knopf und wartete auf den Lift.
„Guten Abend, Doktor Kaiser.“ Die Nachtschwester sauste an ihr vorbei.
„Guten Abend, Schwester Susanne.“ Sie schaute der Krankenschwester, die das Zimmer 312 betrat, hinterher. Über der Zimmertür blinkte ein rotes Lämpchen.
Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Maria betrat das Gefährt und tippte den Knopf, der zur Notaufnahme im Erdgeschoß führte. Der Lift stoppte mit einem sachten Ruck, der ausreichte, um einen Kloß in ihren Hals zu befördern. Sie schluckte vergeblich und räusperte sich mehrere Male, während sie durch den leeren Flur eilte. Das Echo ihrer Tritte hallte vorwurfsvoll von den Wänden.
Maria erreichte die Notfallstation, СКАЧАТЬ