Название: Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme
Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027238149
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»Der gnädige Herr wollte mir seine Befehle erteilen.«
»Ja, ja. Man kann von hier nach Ovelgönne nicht fahren?«
Nach Ovelgönne wollte der alte Herr also. Morgen oder übermorgen, hatte er ja der Mamsell Karoline versprochen. Er hatte doch bis übermorgen warten können, vielleicht warten müssen. Fräulein Gisbertine hatte viel leicht anderweite Befehle für ihn gehabt.
»Nur in einer Bergchaise«, antwortete ihm der Kutscher, »und ich wüsste nicht, wo Sie die hier in der Nähe finden sollten.«
»Da ist also noch Alles beim Alten geblieben!« bemerkte der Domherr.
»Im Gebirge verändert sich wenig, Euer Gnaden. Und jetzt, da wir hier wieder hessisch und die dort drüben wieder preußisch geworden sind, wird noch weniger geschehen«.
»Warum das?«
»Wegen des Schmuggelns, Euer Gnaden. An der preußischen Grenze sind sie gewaltig streng. Da steht hinter jedem Busch ein Grünrock mit Büchse und Säbel, und je besser und fahrbarer also die Wege wären, desto mehr Grenzwächter müssten da sein.«
»Mitten in Deutschland!« sagte der Domherr für sich.
»Ja, ja, Euer Gnaden«, sagte der Kutscher. »Unter den Franzosen war doch wohl manches besser, wenigstens hier in Kurhessen, da war kein Zopf, da regierte kein Stock. Nun, und in Preußen —«
»Schweigt von Preußen!« rief der Domherr.
»Nun, nun, Euer Gnaden, ich komme zuweilen hin. So erschrecklich zufrieden sind die Leute auch da nicht mit dem neuen Regiment. Wenn sie auch den alten Zopf von Anno sechs nicht wiederbekommen haben, der Stock und die Peitsche dazu sind doch wieder da, der Stock für die Soldaten und die Peitsche für die andern ehrlichen Leute. Euer Gnaden müssen es ja wissen, Sie sind ja da zu Hause.«
Der Domherr schwieg.
Der Kutscher aber, der einmal im Zuge war, fuhr fort, und der Domherr ließ ihn fortfahren.
»Und nun diese Grenzwachen und Zollsperren und Zollwächter und Zolljäger, von denen wir früher unter dem fremden Regiment auch nichts wussten! Die Franzosen hatten wohl ihre Douanen an den Grenzen, aber ihre Grenzen waren doch nicht mitten in Frankreich.
Hier sind sie mitten im Herzen des deutschen Landes, und sie zerreißen dem Lande das Herz nicht ein oder zweimal, sondern fünfzig- und hundertfach. Nehmen Sie auch da nur wieder Ihr Preußen. Ich komme als Kutscher mit den fremden Badeherrschaften viel und weit herum, und da habe ich es selbst oft genug erfahren.
Ihr Preußenland allein sperrt mit seinen Zollgrenzen sich ab gegen wenigstens zwölf deutsche Länder, aus denen ihm nichts hereingebracht werden darf, wenn nicht schwere Zölle dafür bezahlt werden. Da müssen sie dann in Preußen alles teurer bezahlen als anderswo. Das wollen die Leute natürlich nicht gern, besonders wenn sie sehen, wie ihre Nachbarn die Sachen besser und wohlfeiler haben. Da blüht dann überall der Schmuggel und der Schmuggelhandel, und der Krieg und die Hetzjagd an den Grenzen hören nicht auf. So ist es auch an der hessischen Grenze und gerade hier in dieser Gegend, wo die Berge den Schmugglern so manchen Versteck bieten, den die weiter kommenden Grenzwächter nicht kennen, und die Diemel das Entkommen leichter macht. Es werden doch noch immer genug arme Menschen erschossen, und ebenso viele, die mit dem Leben davonkommen, werden auf der Hetzjagd eingefangen und müssen dann für Jahre in das Zuchthaus, und aus den Zuchthäusern kommen nur Spitzbuben zurück. Hier an dieser Grenze will nun, wie man hört, die preußische Regierung der Geschichte ein Ende machen; es ist ihnen gerade hier in der neuern Zeit doch zu arg geworden. Da ist denn vor ein paar Tagen ein Regierungsrat aus Minden herübergekommen, der reist in den Bergen und Schluchten herum, sieht sich alles an, hat neue Instruktionen für die Grenzjäger mitgebracht, gar auch verstärkte Mannschaft, wie es heißt, setzt sich sogar mit den hessischen Grenzbehörden in Verbindung, dass diese mit den preußischen Hand in Hand gehen sollen, und so hofft man den Schmuggel in dieser Gegend ganz auszurotten. Du lieber Gott, jeder Mensch will so gut und so wohlfeil leben, wie er eben kann, und solange die Zölle bestehen, wird der Schmuggel bestehen.
Was der Herr Regierungsrat aus Minden fertig bringt, wird nichts anderes sein, als dass das Jahr ein paar Dutzend Menschen mehr totgeschossen und noch mehr arme Familien unglücklich werden. Aber weiß der gnädige Herr, was bei dem allem noch das Allerschlimmste ist?«
Der Domherr antwortete auf die Frage nicht. Er hatte seine Blicke den Strom hinauf nach der alten Sägemühle gerichtet, und dort schien etwas seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen zu haben.
Der Kutscher fuhr dennoch fort:
»Das Schlimmste ist, dass Preußen seine Grenzen so nur hauptsächlich gegen die deutschen Länder abschließt. Dahinten an der russischen Grenze soll es ganz anders sein; da sollen im Gegenteil die Russen ihre Grenze gegen Preußen absperren, und die preußische Regierung soll mit der russischen sogar einen Vertrag geschlossen haben, durch welchen das ausdrücklich so festgestellt ist und die armen preußischen Einwohner selbst für das Salz dreimal so viel bezahlen müssen, als es in Russland kostet, und —«
Der Domherr unterbrach den Redefluss des Kutschers.
»Ich denke, wir haben nun genug von der Geschichte gesprochen. Ihr wolltet meine Befehle holen. Ihr wartet hier auf mich, bis ich zurückkomme.«
»Der gnädige Herr will also zu Fuß nach Ovelgönne?«
»Ja!«
»Der gnädige Herr kennt den Weg?«
»Ja!«
Der Kutscher zog sich zurück
Der Domherr konnte ungestört dem Anblick folgen, der sich ihm darbot.
Die hübsche Kellnerin hatte ihm seinen Kaffee gebracht und Wein, Brot und Käse für den Kutscher auf einen Tisch seitwärts am Hause gestellt. Sie war dann stehen geblieben, um nach der Fähre zu schauen.
Das Übersetzen erforderte Zeit. Die Nachen lagen am diesseitigen Ufer. Da musste der Fährmann zuerst einen losbinden, hinüberfahren, drüben einsteigen lassen, wieder zurückfahren.
Die Kellnerin musste lange warten.
Endlich kam jemand um die Mühle herum, langsam, beschwerlichen Schrittes.
Es war ein langer, hagerer, ärmlich gekleideter Mann, er ging lahm und darum auch so langsam und beschwerlich. Das eine Bein war ihm viel kürzer als das andere; dennoch, wenn er auch auf dem kürzeren Beine stand, schien er noch seine sechs Fuß zu messen. Er hatte ein weiches, leidendes Aussehen und schien die Mitte der vierziger Jahre überschritten zu haben. Er ging auf das Haus zu. Die Kellnerin hatte er nicht gleich gesehen.
Aber sie sah ihn, das frische Gesicht rötete sich lebhafter und sie stürzte fort, auf den langen, lahmen, leidenden Mann zu, umfing ihn mit ihren Armen und rief:
»Vater! Vater!« und vergaß alles andere.
»Hm, wie die Karoline!« sagte der Domherr für sich. »Und Dame Gisbertine?«
Das Mädchen führte den lahmen Mann in eine Laube des Gärtchens dicht am Hause. Sie war dort mit ihm allein und doch für ihren Dienst immer bei der Hand.
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