Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
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Читать онлайн книгу Die verlorene Handschrift - Gustav Freytag страница 35

Название: Die verlorene Handschrift

Автор: Gustav Freytag

Издательство: Public Domain

Жанр: Зарубежная классика

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СКАЧАТЬ ein höheres geheimes Leben waltet, welches nach ewigen Gesetzen schaffend und zerstörend dauert. Und einige Gesetze dieses höhern Lebens zu erkennen und den Segen zu empfinden, welchen dies Schaffen und Zerstören in unser Dasein gebracht hat, das ist Aufgabe und Stolz des Geschichtsforschers. Von diesem Standpunkt verwandelt sich Auflösung und Verderben in neues Leben. Und wer sich gewöhnt, die Vergangenheit so zu betrachten, dem vermehrt sie die Sicherheit, und sie erhebt ihm das Herz.«

      Ilse schüttelte das Haupt und sah vor sich nieder. »Der römische Mann, dessen verlorenes Buch Sie zu uns geführt hat, und von dem heut wieder die Rede war, ist er Ihnen deshalb lieb, weil er die Welt ebenso freudig angesehen hat wie Sie?«

      »Nein,« versetzte der Professor, »gerade das Gegentheil macht uns seine Arbeit beweglich. Sein ernster Geist wurde niemals durch fröhliche Zuversicht gehoben. Das Schicksal seines Volkes, die Zukunft der Menschen liegt ihm als ein unheimliches Räthsel schwer auf der Seele, in der Vergangenheit erblickt er eine bessere Zeit, freieres Regieren, stärkere Charaktere, reinere Sitten, er erkennt an seinem Volke und im Staat einen Verfall, der selbst durch gute Regenten nicht mehr aufzuhalten ist. Es ist ergreifend, wie der besonnene Mann zweifelt, ob dies furchtbare Schicksal von Millionen eine Strafe der Gottheit ist, oder die Folge davon, daß kein Gott sich um das Loos der Sterblichen kümmert. Ahnungsvoll und ironisch betrachtet er die Geschicke der Einzelnen, die beste Weisheit ist ihm, das Unvermeidliche schweigend und duldend ertragen. Daß er in eine trostlose Oede starrt, erkennt man auch dann, wenn ihm einmal ein kurzes Lächeln die Lippen bewegt; man meint zu sehen, daß um sein Auge doch die Furcht hängt und der starre Ausdruck, welcher dem Menschen bleibt, den einmal tötliches Grauen geschüttelt.«

      »Das ist traurig,« rief Ilse.

      »Ja, es ist fürchterlich. Und wir begreifen schwer, wie man bei solcher Trostlosigkeit das Leben ertrug. Die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben, hatte damals nicht der Heide, nicht der Christ. Denn das ist doch das höchste und unzerstörbare Glück des Menschen, wenn er vertrauend auf das Werdende, mit Hoffnung auf das Zukünftige blicken kann. Und so leben wir. Viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgibt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern, in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung. Das ist uns Modernen Freude und Ehre, das hilft wacker und stolz machen. Und wir wissen wohl, die frohe Empfindung dieses Besitzes kann auch uns einmal getrübt werden, denn jeder Nation kommen zeitweise Störungen ihrer Entwicklung, aber das Gedeihen ist nicht zu ertöten und nicht auf die Dauer zurückzuhalten, solange diese letzten Bürgschaften der Kraft und Gesundheit vorhanden sind. Deshalb ist jetzt auch glücklich, wer den Beruf hat, längst Vergangenes zu durchsuchen, denn er blickt von der gesunden Luft der Höhe hinab in die dunkle Tiefe.«

      Ilse sah hingerissen in das Antlitz des Mannes; er aber bog sich über die Garbe, welche zwischen ihm und ihr lehnte, und fuhr begeistert fort: »Jeder von uns holt aus dem Kreise seiner persönlichen Erfahrungen Urtheil und Stimmung, welche er bei Betrachtung großer Weltverhältnisse verwendet. Blicken Sie um sich her auf die lachende Sommerlandschaft, dort in der Ferne auf die thätigen Menschen, und was Ihrem Herzen näher liegt, auf Ihr eigenes Haus und den Kreis, in dem Sie aufgewachsen sind. So mild das Licht, so warm das Herz, verständig, gut und treu der Sinn der Menschen, die Sie umgeben. Und denken Sie, welchen Werth auch für mich hat, das zu sehen und an Ihrer Seite zu genießen. Und wenn ich über meinen Büchern recht innig empfinde, wie wacker und tüchtig das Leben meines Volkes ist, welches mich umgibt, so werde ich fortan auch Ihnen zu danken haben.« Er streckte seine Hand aus über die Garben, Ilse faßte sie, hielt sie mit beiden Händen fest, und eine warme Thräne fiel darauf. So sah sie mit feuchten Augen zu ihm hin, eine ganze Welt von Seligkeit lag in ihrem Antlitz. Allmählich ergoß sich ein helles Roth über ihre Wangen, sie stand auf, noch ein Blick voll hingebender Zärtlichkeit fiel auf ihn, dann schritt sie flüchtig von ihm abwärts, den Rain entlang.

      Der Professor blieb stehen, an die Garben gelehnt. Auf der Spitze der Aehre über seinem Haupte zwitscherte fröhlich die Haidelerche, er drückte seine Wange an die Getreidebüschel, welche ihn halb verbargen. So sah er in seliger Vergessenheit dem Mädchen nach, das zu den fernen Arbeitern hinabstieg.

      Als er die Augen erhob, stand ihm der Freund zur Seite, er schaute ein Antlitz, in welchem inniges Mitgefühl zuckte, und hörte die leise Frage: »Und was soll werden?«

      »Mann und Weib,« sprach der Professor stark, drückte dem Freunde die Hand und schritt über das Feld dem Ruf der Lerche nach, welche auf jeder Garbenspitze anhielt, ihn zu erwarten.

      Fritz war allein. Das Wort war gesprochen, ein neues ungeheures Schicksal erhob sich über das Leben des Freundes. Also dies sollte das Ende sein? Thusnelda statt des Tacitus? – Ach, die sociale Erfindung der Ehe war sehr ehrwürdig, das empfand Fritz tief, es war fast allen Menschen unvermeidlich, die aufwühlenden Kämpfe durchzumachen, welche eine Veränderung der gesammten Lebensordnung zur Folge haben. Aber den Freund konnte er sich gar nicht denken unter den Büchern, mit den Collegen, und dazu diese Frau! Schmerzlich fühlte er, daß auch sein Verhältniß zu dem Gelehrten dadurch geändert werden mußte. – Aber er dachte nicht lange an sich selbst, mißtrauisch, ängstlich sorgte er um den Waghalsigen. Und nicht weniger um sie, die so gefährlich in die Seele des Andern eingedrungen war. – Und der Treue sah zornig in die Runde auf Stoppeln und Strohhalme, und er ballte eine Faust gegen den seligen Bachhuber, gegen das Thal von Rossau, ja auch gegen sie, die letzte Ursache der heillosen Verwirrung – gegen die Handschrift des Tacitus.

      9.

      Ilse

      Ilse hatte in großer Wirtschaft gleichmäßig dahingelebt, seit dem Tod der Mutter hatte sie, kaum erwachsen, dem Haushalt des Gutes vorgestanden, angestrengt und pflichtgetreu wie ein Beamter ihres Vaters; der Frühling kam und der Herbst, ein Jahr rollte wie das andere über ihr Haupt; der Vater, die Geschwister, das Gut, die Arbeiter und die Armen des Thales, das war ihr Leben. Mehr als einmal hatte sich beim Vater ein Freier gemeldet, ein derber tüchtiger Landwirth aus der Umgegend, sie aber hatte sich zufrieden gefühlt in dem Amt des Hauses, und sie wußte, daß dem Vater lieb war, wenn er sie bei sich behielt. Des Abends, wenn der thätige Mann auf dem Sopha ausruhte und die Kinder zu Bett geschickt waren, saß sie still mit ihrer Stickerei neben ihm oder besprach die kleinen Vorgänge des Tages, die Krankheit eines Arbeiters, den Schaden eines Hagelschauers, den Namen der neuen Milchkuh, die angebunden wurde. Es war eine einsame Gegend, viel Wald, meist kleine Güter, keine reiche Geselligkeit, und der Vater, der sich durch angestrengte Thätigkeit zum wohlhabenden Manne heraufgearbeitet hatte, war kein Freund großer Gesellschaften, die Tochter auch nicht. Am Sonntage kam wohl der Herr Pastor zu Tische, die Beamten des Vaters blieben dann über den Kaffe und erzählten kleine Geschichten aus der Umgegend, die Kinder, welche in der Woche durch den Seminaristen gebändigt wurden, lärmten durch Garten und Flur. Und wenn Ilse eine freie Stunde hatte, setzte sie sich in ihr Stübchen mit einem Buche aus der kleinen Sammlung des Vaters, einem Roman von Walter Scott, einer Erzählung von Hauff, einem Bande von Schiller.

      Jetzt aber war mit dem fremden Manne eine Fülle von Bildern, Gedanken, Gefühlen in ihrer Seele aufgegangen. Vieles, was sie bis dahin gleichmüthig aus der Ferne betrachtet hatte, wurde ihr auf einmal nah vor die Augen gerückt. Wie künstliches Feuer, welches unerwartet aufsprühend einzelne Stellen der dunklen Landschaft mit buntem Schein erleuchtet, gab ihr seine Rede bald hier bald dort einen fesselnden Blick auf fremdes Leben. Wenn er sprach und die Worte so reich, gewählt und vornehm aus seinem Innern quollen, dann neigte sie das Haupt anfänglich vorwärts, wie im Traum, bis zuletzt ihr Blick an seinen Lippen und Augen festhing. Denn sie fühlte eine Ehrfurcht, bei welcher Schrecken war, vor einem Menschengeiste, der so hoch und sicher über der Erde schwebte. Von vergangenen Zeiten sprach er wie von der Gegenwart, die geheimen Gedanken der Menschen, welche vor Jahrtausenden lebendig СКАЧАТЬ