Название: Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Автор: Gustav von Bodelschwingh
Издательство: Public Domain
Жанр: Зарубежная классика
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Im Herbst 1853 verließ mich mein Freund Ernst, um in Berlin sein Einjährigenjahr abzudienen. Aber Gott schenkte mir ein paar tüchtige neue Gehilfen. Der eine war der Bruder meines früheren Lehrmeisters in Mechern, Bieler, der schon in Kienitz mit mir zusammen gearbeitet hatte, und der andere der Sohn meines früheren Religionslehrers, des Dompredigers Snethlage, Moritz, der anstelle von Ernst Senfft die Bewirtschaftung von Raffenberg übernahm.
Es war kein Geringes, was auf meine Schulter gefallen war. Im Äußeren schenkte Gott gerade für dieses Jahr viel Segen und Hilfe, sodaß die materiellen Nöte zu schwinden schienen. Aber um so größer waren die Nöte und Gefahren, die auf meiner Seele lagen, und oft stieg ich an der Stelle, wo ich, wie ich vermutete, an jenem Morgen bewußtlos gelegen hatte, vom Pferde – die Stelle lag an einem schattigen Bachufer mitten im Walde verborgen – , um Gott um Hilfe anzuschreien. Es waren im ganzen zwölf Inspektoren, ältere und jüngere, die alle der Leitung und Aufsicht bedurften. Dazu fühlte ich aber keineswegs die Kraft in mir. Sonntagmorgens ging man wohl nach alter Ordnung in die Kirche, aber den ganzen Sonntagnachmittag pflegten wir auf der Kegelbahn zuzubringen, und an viel Leichtsinn und Verirrungen mancherlei Art fehlte es unter uns nicht.
Doch wir jungen Leute fanden in unsern geistlichen Nöten einen besonders treuen Freund. Das war der Posthalter von Gramenz, ein früherer Wirtschaftsinspektor, der aber, weil er leidend war, diesen leichteren Posten übernommen hatte. Er hieß Otto Mellin. Oft wenn jemand einen Brief holte oder brachte, hörte er gleichzeitig dessen verborgenste Klagen mit an und teilte Freud und Leid mit jedermann. In besonderen Fällen aber, und wenn Zeit und Stunde es erlaubten, nahm er den Betreffenden mit in sein kleines freundliches Stübchen, das hinter dem Postbüro lag. Dort schlug er in der Bibel die Stelle auf, die ihm für die besondere Not die rechte Arznei zu liefern schien.
Unverhofft merkten wir, der eine wie der andere unter uns jungen Leuten – denn laut wurden diese Sachen nicht verhandelt – , daß man in Otto Mellin einen Freund gefunden und an derselben Quelle Hilfe und Trost geschöpft hatte. Unser lieber Pastor Diekmann, der kräftig und treu sein Amt verwaltete, war persönlich zu heftig, sodaß man sich nicht zu ihm traute. So bot der liebe Mellin, der in unsern schalkhaften Freundeskreisen immer „Seine Majestät die Post” hieß, einen Ersatz für das, was wir bei unserm Pastor an Seelsorge nicht fanden.
Durch Freund Mellin machte ich in einer Hütte, die zu Gramenz gehörte, die Bekanntschaft eines armen Kranken, die für mich von besonderem Wert wurde. Der Besuch in dieser Hütte war um so bedeutsamer für mich, als er in großem Gegensatz stand zu einer früheren Erfahrung. Der alte Herr von Senfft hatte mir einmal im ersten Jahre eine Rolle mit 100 Talern geschenkt mit dem Auftrag, sie zum Besten der Armen zu verwenden, und zwar in den beiden Vorwerken, die mir zuerst anvertraut waren. Besonders in einem dieser Vorwerke herrschte noch in ungezügelter Grausamkeit der Branntwein. Von dieser Macht des Branntweins hatte ich gleich in einer der ersten Katen, in die mich meine Armenbesuche führten, einen besonders erschreckenden Eindruck. Bei den alten pommerschen Katen waren die vier Pfosten der Hütte ohne jede Schwelle einfach auf vier Steine gesetzt. Je mehr nun diese Pfosten an ihrem unteren Ende faulten, desto tiefer sank die Hütte zur Erde herunter. Solange der Branntwein in solch schornsteinlosen Hütten nicht das Regiment führte, ließ sich ganz glücklich darin leben. Ja, es hatte früher einen langjährigen Krieg der Bewohner dieser alten Hütten gegen die modernen Schornsteinhäuser gegeben.
Aber in der obenerwähnten Hütte, in die ich nur mit gebücktem Kopf hatte eintreten können, herrschte der Branntwein. Der Mann soff, solange er etwas hatte, die Frau auch, und selbst ihren Kindern gaben sie zur Betäubung des Hungers von dem unseligen Naß. Als ich nun durch die niedrige Tür in den einzigen Raum, den der Katen enthielt, hineingekrochen war, sah ich auf dem Strohlager an der Erde eine Leiche liegen. Es war die Leiche der Mutter des Hauses. Während ich noch, entsetzt von dem Anblick der Not und des Grauens, dastand, bewegte sich die Decke, und ein schmutziger Kinderkopf und bald noch einer guckten unter der Decke hervor, verkrochen sich aber bald wieder, denn es war bitter kalt. Draußen lag Schnee und drinnen brannte kein Feuer.
Bei dieser armen Familie versuchte ich zuerst mein Heil mit meinen 100 Talern, wurde aber gründlich zuschanden. Denn der Roggen, den ich ihnen schenkte, und die Kleider, die ich für die armen zerlumpten Kinder kaufte, wurden, soweit es möglich war, wieder in Branntwein verwandelt. Ähnlich ging es mir bei andern Familien. Meine 100 Taler waren im Umsehen ausgegeben; aber ausgerichtet hatte ich nichts. Und diese Lehre war mir nicht zum Schaden, denn ich lernte, daß mit bloß menschlichen Künsten der Gutmütigkeit gegen menschliches Elend und gegen Sünde, von der das Elend stammt, nichts auszurichten ist.
Wie ganz anders sah es aber in der Hütte aus, in die mich mein Freund Mellin führte! Auch in ihr wohnte große Armut und Krankheit und Elend dazu. Aber statt des Branntweins hatte hier der Friede Gottes das Regiment! Seit 28 Jahren, fast von seiner Jugend an, lag hier auf verhältnismäßig sauberem Lager ein Lazarus: „der kranke Fritz”, so hieß er im Dorf. Aber er besaß, was mehr war als die Schätze Ägyptens: er wußte, was er an Jesus Christus hatte, nämlich die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und das machte ihn reich und glücklich. Der Vergleich mit den armen Branntweinsäufern, die mit keinem Mittel menschlicher Weisheit aus ihrem Elend gerissen werden konnten, zugleich mit der Erinnerung an meine vergeblich ausgegebenen 100 Taler – und dem gegenüber der kranke Fritz mit seinem reichen Besitz der unvergänglichen köstlichen Perle machten einen tiefen Eindruck auf mich. Der kranke Fritz wurde von da ab im Verborgenen mein Freund. Gott allein weiß es, und die Ewigkeit wird es klarmachen, was ich ihm verdanke!
Mitten in diese für mich so bewegte Arbeits- und Kampfeszeit fiel ein Ereignis besonderer Art. Ich war eines Abends im Monat Mai 1854 nach Buchwald hinübergeritten, wo mir ja immer der Eintritt in das liebe Glasenapsche Familienleben offen stand. Da wurde ein Brief durch einen besonderen Boten von Gramenz hinter mir her geschickt. Er war von der Hand meiner lieben Mutter und begann: „Ehe Du diesen Brief liest, mein lieber Sohn, bitte Gott, daß es Dir zum Segen werde, was ich Dir mitteilen muß.” Und nun kam die Nachricht von dem seligen Heimgang meines Vaters.
Der Vater hatte sich schon mehrere Jahre zuvor wieder eine Arbeit vom König ausgebeten. Und zwar hatte er gewünscht, daß ihm wieder ein Landratsamt zugewiesen werden möchte. Er trachtete nicht nach hohen Dingen, und solch ein geringer Posten wäre ihm in der Tat das liebste gewesen. Statt dessen hatte ihn der König im Jahre 1852 zum Regierungspräsidenten in Arnsberg ernannt anstelle des jüngeren Bruders meines Vaters, der das Finanzministerium in Berlin übernahm. Auch dieser Posten war ihm recht, und er hat ihn mit größter Freudigkeit und Treue die zwei letzten Jahre seines Lebens verwaltet.
Etwa ein Jahr vor der mir ganz überraschend gekommenen Todesnachricht hatte mich schon einmal ein Brief der Mutter plötzlich den weiten Weg von Gramenz nach Westfalen machen lassen. Die Mutter schrieb, daß der Vater tödlich erkrankt sei und die Ärzte wenig Aussicht für sein Leben ließen. Als ich nach Berlin zu meinen Verwandten kam, war die dort eingetroffene Nachricht noch hoffnungsloser, sodaß ich nichts anderes mehr erwarten konnte, als des Vaters Antlitz hienieden nicht mehr zu sehen.
Ich kam von Soest mit der Post abends zehn Uhr in Arnsberg an, wo das elterliche Haus dicht bei der katholischen Kirche an einem freien Abhang gelegen war. Der Mond stand hell am Himmel. Ich traute mich zunächst nicht in das Haus hinein, sondern ging von allen Seiten herum, um an den etwa vorhandenen Lichtern zu erkennen, was ich darin wohl vorfinden würde. Noch stand ich einen Augenblick an das Geländer des Abhangs gelehnt, als plötzlich die Haustür aufging und ein Mann heraustrat. Es war СКАЧАТЬ