Название: Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren
Автор: Steffen Stern
Издательство: Bookwire
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811436589
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Mord und Totschlag können auch durch Unterlassen versucht oder verwirklicht werden. Am Ende kommt es vielleicht „nur“ zur Verurteilung wegen Aussetzung (§ 221 StGB) oder unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB)[4] oder, wenn ungewiss bleibt, ob selbst schnellste Hilfe dem Opfer Rettung oder zumindest Linderung seiner Qualen bringen konnte[5], zu einem Freispruch. Umgekehrt kann ein Verhalten, das vielleicht zunächst lange Zeit wie ein Fahrlässigkeitsdelikt aussieht und auch so angeklagt wird, erstmals in der Hauptverhandlung dem Strafrichter als Vorsatztat erscheinen und Veranlassung geben, die Hauptverhandlung auszusetzen und gem. § 270 StPO Verweisung des Falles vom AG ans SchwurG zu beschließen[6]. Auch die Anklage wegen Nichtanzeige einer geplanten Straftat kann u.U. in den Vorwurf münden, an dem zugrunde liegenden Tötungsdelikt beteiligt gewesen zu sein[7]. Ist die Sache bei der allgemeinen Strafkammer rügelos „anverhandelt“ worden, ist eine Verweisung ans SchwurG jedoch unzulässig[8].
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Die Schwierigkeiten beginnen bei der stark von subjektiven Aspekten gefärbten Mordkasuistik[9]. Kopfzerbrechen bereitet in praxi auch die Beurteilung jener Fälle, in denen nicht alle Tatbeteiligten ein und dasselbe oder überhaupt ein Mordmerkmal verwirklichen. Genauso verzwickt ist mitunter die Frage nach dem Vorsatzelement, das durch die Rechtsfigur des Eventualvorsatzes[10] kaum noch feste Konturen aufweist. Auch im Kapitalstrafverfahren werden die Täter in steigender Zahl im Labor überführt. Es dominiert der Sachverständigenbeweis. Für einen Großteil der Gewalttaten gibt es ohnehin keinen unmittelbaren Augenzeugen. Zudem ist die Fähigkeit des Menschen, ein bestimmtes Ereignis in allen Facetten lückenlos wahrzunehmen, in der Erinnerung zu speichern und unverfälscht zu reproduzieren, äußerst begrenzt. Unzutreffende Zeugenaussagen sind bekanntlich an der Tagesordnung. Aber auch das Geständnis[11] des Tatverdächtigen, die „Königin aller Beweise“, bedarf grundsätzlich der Absicherung und Überprüfung. Zwar kommen die Vernehmungsspezialisten erstaunlich oft schon in den ersten Verhören des Festgenommenen zum Ziel, doch häufig folgt dem Schuldbekenntnis der Widerruf. Und keineswegs ist dies in allen Fällen der durchsichtige Versuch eines Schuldigen, das Tateingeständnis, das man mit zeitlichem Abstand bereut und als ärgerliche Torheit empfindet, nachträglich aus der Welt zu schaffen.
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Immer wieder sorgen Falschgeständnisse für Aufsehen und Verwirrung. Sie führen nicht nur zu katastrophalen Fehlurteilen, sondern versperren zugleich den Blick auf den unbehelligt gebliebenen wahren Täter und begünstigen womöglich ein folgenschweres Wiederholungsdelikt. Auch der Verteidiger lässt sich von der suggestiven Kraft des Geständnisses blenden. Im Innersten misstraut er den neuerlichen Unschuldsbeteuerungen seines Mandanten und steuert eine maßvolle Strafe an, anstatt auf rückhaltlose Aufklärung zu drängen. Die Blamage ist riesig, wenn sich im Nachhinein erweist, dass der Verteidiger einen wirklich Unschuldigen vom Widerruf abgehalten oder zur Erneuerung des widerrufenen Geständnisses ermuntert hat[12].
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Kaum verwunderlich also, dass dem Sachbeweis nicht zuletzt dank neuer oder verbesserter kriminaltechnischer Untersuchungsmöglichkeiten ständig wachsende Bedeutung zukommt. Unproblematisch ist dies jedoch nicht. Es beginnt mit höchst umstrittenen Methoden der Beweisgewinnung. Da werden mittlerweile ganze Dorfgemeinschaften einem DNA-Vergleich unterzogen. Im Mordfall einer 11-Jährigen aus Stücklingen (Kreis Cloppenburg) wurden im Frühjahr 1998 etwa 18.000 Männer zwischen 18 und 30 Jahren zur freiwilligen Speichelprobe gebeten. Etwa 15.000 haben teilgenommen; unter ihnen auch der später festgenommene mutmaßliche Mörder, der sich offensichtlich zur „freiwilligen“ Mitwirkung „genötigt“ gesehen hat, um nicht Tatverdacht auf sich zu lenken. Die Kosten allein dieses Gen-Massentests beliefen sich auf etwa 4,5 Millionen DM. Der damals 30 Jahre alte Täter, ein Familienvater mit drei Kindern, gestand weitere Missbräuche und einen zweiten Mord. Im Prozess erhielt er die Höchststrafe. Der Reihengentest und die Teilnahme auf freiwilliger Basis wird nun durch § 81h StPO ausdrücklich geregelt.
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Und häufig genug werden auch in Schwurgerichtsverfahren durch Experten interpretierte Untersuchungsbefunde zur reinen Glaubensfrage, weil die angewandten Untersuchungsmethoden aus Juristensicht wenig durchschaubar, geschweige denn in allen Details nachvollziehbar und überprüfbar sind. Die Interpretation von Spurenbildern und Befunden birgt Tücken, wenn es darum geht, Aufschlüsse über die Person des Täters oder den Tathergang zu gewinnen und einen bestimmten Tatverdächtigen zu überführen oder als Täter auszuschließen. Nicht immer ist rechtsmedizinisch sicher zu klären, ob der Tod einer Person auf Fremdverschulden, Selbstmord, einen Unglücksfall oder auf eine natürliche Todesursache zurückgeht. Bei 31.832 gestorbenen Personen wurde im Jahr 2009 ein Unfall, Suizid oder eine vorsätzliche Handlung als Todesursache ermittelt. Allein 7.533 Personen starben laut Leichenschauschein bei häuslichen Unfällen[13].
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Wie schnell man in falschen Verdacht geraten kann, zeigt der Fall eines vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochenen Angeklagten, dem zur Last gelegt worden war, seine damalige Lebensgefährtin während einer Auseinandersetzung aus Eifersucht durch Schläge auf den Gesichtsbereich körperlich so schwer misshandelt zu haben, dass diese nach hinten mit dem Kopf auf ein Möbelstück oder auf den Boden fiel und wenige Tage später an den Folgen des dabei erlittenen beidseitigen subduralen Hämatoms verstarb. Den Ausführungen der 3 hinzugezogenen medizinischen Sachverständigen folgend war das LG davon ausgegangen, dass die Geschädigte die zum Tode führenden Verletzungen im Schädel-Hirn-Bereich bei einem Sturz mit Anprall auf das Hinterhaupt erlitt. Ein Tod durch fremde Hand war jedoch nicht nachweisbar, insbesondere nicht, dass ein Handeln des Angeklagten, etwa ein Faustschlag auf die Kopfregion der Geschädigten, zu diesem Sturz führte. Es erschien vielmehr aufgrund der Darstellung des Angeklagten nicht ausgeschlossen, dass die Lebensgefährtin während des Duschens auf dem nassen Untergrund der Duschbadewanne ausgerutscht war und die subdurale Blutung sich erst später bemerkbar gemacht hat, als die Lebensgefährtin über Unwohlsein klagte und zusammenbrach, woraufhin der Angeklagte den Rettungswagen und den Notarzt alarmierte[14].
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Fehlbeurteilungen aus Expertenmund lösen völlig unnötige Ermittlungen aus[15] oder leiten sie in die falsche Richtung – zuweilen mit verhängnisvollen Folgen. Im sog. Kälberstrick-Fall war der Beschuldigte Hetzel im Jahre 1955 aufgrund eines haltlosen Gutachtens wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. Spuren am Hals des „Opfers“, die durch Aufliegen des Leichnams auf einem Ast entstanden waren, hatte der Gerichtsmediziner bei Betrachten von Fotoaufnahmen irrtümlich als durch einen Kälberstrick hervorgerufene Drosselmarke klassifiziert[16]. 1969 wurde Hetzel im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Einander widersprechende gerichtsmedizinische Gutachten (beispielsweise zur Todesursache)[17], die mitunter zu heftigen Kontroversen im Gerichtssaal führen, verleiten Juristen leider allzu oft, sich in großer Selbstüberschätzung „kraft eigener Überlegungen“ auf die eine oder andere Seite zu schlagen, anstatt den einzig vernünftigen und sicheren Weg über den Zweifelssatz zu wählen.
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