Название: Handbuch des Strafrechts
Автор: Dennis Bock
Издательство: Bookwire
isbn: 9783811455566
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6. Die Erpressung in der Nachkriegszeit
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Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 bestimmte nationalsozialistische Strafgesetze aufgehoben. Die durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 getroffenen Regelungen blieben jedoch in Kraft. Allerdings verbot die Kontrollratsproklamation Nr. 3 Ziff. II. 2 die Strafbegründung mit dem Verweis auf das „gesunde Volksempfinden“. In der Nachkriegszeit stellte sich daher bald die Frage, ob Verurteilungen auf den Tatbestand des § 253 RStGB in der Fassung von 1943 gestützt werden konnten, oder ob die Strafvorschrift durch die Gesetzgebung des Alliierten Kontrollrats (insgesamt) aufgehoben worden war. Ein Teil der Rechtsprechung nahm an, dass § 253 RStGB n.F. (bzw. der insoweit inhaltsgleiche § 240 RStGB n.F.) unwirksam seien, weil sie untrennbar mit typisch nationalsozialistischer Strafrechtssetzung verbunden waren.[39] Demgegenüber ging die überwiegende Anzahl der mit der Frage befassten Gerichte davon aus, dass die §§ 240, 253 RStGB n.F. zwar möglicherweise eine nationalsozialistische Diktion verwendeten, aber ihrer Weitergeltung keine durchgreifenden Bedenken entgegenstünden.[40] Eine vermittelnde Ansicht ging von der grundlegenden Fortgeltung der §§ 240 Abs. 1, 253 Abs. 1 RStGB aus, wollte aber den Absatz 2 jeweils unangewendet lassen bzw. durch das Merkmal der „guten Sitten“ oder durch eine allgemeine Rechtswidrigkeitsprüfung ersetzen.[41]
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Der BGH schloss sich dann der Ansicht derjenigen Obergerichte an, die eine unbeschränkte Fortgeltung des reformierten Erpressungstatbestandes befürworteten. Die Kontrollratsproklamation verbiete insoweit nur eine nationalsozialistische Interpretation des „gesunden Volksempfindens“, es sei dem Richter aber nicht verwehrt, bei der Einschränkung des Tatbestandes das Rechtsempfinden des Volkes zu berücksichtigen.[42] Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953[43] wurde die sprachlich anstößige Formulierung des § 253 Abs. 2 StGB, den die Norm durch die Reform von 1943 erhalten hatte, dann aber endgültig beseitigt und der Tatbestand erhielt im Wesentlichen die heutige Fassung. Großen Einfluss auf die Erpressungsstrafbarkeit hatte in der Folgezeit dann insbesondere die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der Streiks im Rahmen des Tarifvertragsrechts als rechtmäßig anzusehen waren.[44] Die Erpressung hatte damit ihre Funktion als Instrument zur Bekämpfung von Arbeitsniederlegungen eingebüßt. Zeitgleich setzte der Bundesminister der Justiz, Fritz Neumayer, die Große Strafrechtskommission ein, die umfassende Vorschläge zur Reform des deutschen Strafrechts erarbeitete, die im sog. E 1962 gipfelten. Für das Recht der Erpressung sah der E 1962 aber keine grundlegende Umgestaltung vor.
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Die früher in § 253 Abs. 1 S. 2 StGB vorgesehene Strafschärfung für (unbenannte) besonders schwere Fälle wurde durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 mit Regelbeispielen in Absatz 4 überführt.[45] Seit 1998 wird die genötigte Person nicht mehr als „anderer“, sondern als „Mensch“ bezeichnet.[46]
II. Kriminologische Bedeutung und Erscheinungsformen der Erpressung[47]
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Kennzeichnend für die Erpressung ist stets die zwingende Mitwirkung des Erpressungsopfers bei der Tat. Denn um den Taterfolg herbeizuführen, „muss“ (jedenfalls nach der hier vertretenen Ansicht[48]) das Opfer selbst die Vermögensverfügung vornehmen, also an der Tat mitwirken, und kann sich auf diese Weise „frei kaufen“.[49] Diese Mitwirkung ist dogmatisch mit der Rechtsfigur der notwendigen Teilnahme zu bewältigen. Dennoch steht man bei der Erpressung vor der Situation, dass die Vollendung der Straftat nur deshalb möglich ist, weil sich die potenziellen Opfer „unsolidarisch“ bzw. „egoistisch“ verhalten. Wäre klar, dass sich künftig niemand mehr einer Erpressung beugen würde, würde diese Kriminalitätsform rasch aussterben.[50] Auch Fälle des erpresserischen Menschenraubes blieben folgenlos und würden in der Folgezeit aufhören, wenn niemand die Opfer freikaufen würde. Weil eine konsequente Opfersolidarität dem betroffenen Individuum jedoch kaum zumutbar ist (und das einzelne Opfer zudem auf die Solidarität der anderen Opfer nicht ernsthaft vertrauen kann), lässt sich diese Einsicht praktisch nur bei einigen besonderen Opfern (Verkehrsbetriebe, Lebensmittelindustrie etc.) umsetzen. Dies gilt insbesondere auch für den Staat,[51] der sich – im Gegensatz zu Privatpersonen – nicht erpressen lassen „darf“.
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Die Skala erpresserischer Verhaltensweisen reicht von fast noch sozialadäquatem, im Geschäftsleben üblichem und erlaubtem Druck bis hinein in die Schwerstkriminalität (Kindesentführung, Menschenraub). Diese Breite liegt an der besonderen Rechtsgutskombination, die sich dadurch auszeichnet, dass der Erpresser mit seiner Tathandlung zwar auf das Vermögen zielt, der erpresserische Angriff sich aber zugleich auf andere Rechtsgüter richtet (bis hin zum Angriff auf das Leben).[52] Bei der räuberischen Erpressung, § 255 StGB, besteht kriminologisch bzw. kriminalpolitisch kein Unterschied mehr zum Raub. Die besonders schweren Formen der Erpressung, nämlich der erpresserische Menschenraub und die Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB), sind zwar in der Praxis selten, nehmen aber kontinuierlich zu: Im Jahr 1975 gab es 34, im Jahr 1985 dagegen insgesamt 66 Verurteilte (jeweils alte Bundesländer). Diese Zahl wuchs in den Folgejahren weiter: Im Jahr 2005 gab es 171 und im Jahr 2011 insgesamt 186 Verurteilte.[53] In den letzten Jahren ist jedoch ein leichter Rückgang festzustellen. Die Zahl der Verurteilungen für das Jahr 2013 sank auf 146[54] und für das Jahr 2016 auf 104[55] Verurteilungen, im Jahr 2018 gab es gar nur 89[56] Verurteilungen. Dabei handelte es sich stets um spektakuläre, die Öffentlichkeit erregende und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung besonders beeinträchtigende Straftaten. Sie eignen sich daher besonders gut zur Ausbeutung durch sensationelle Berichterstattung, die nicht immer auf das Leben eines entführten Kindes oder einer Geisel Rücksicht nimmt.[57]
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Was die einfache Erpressung, § 253 StGB, betrifft, fällt sie nach der Verurteilungsstatistik zahlenmäßig ebenfalls kaum ins Gewicht und belief sich im Schnitt etwa auf 600 Verurteilungen im Jahr.[58] Insgesamt wurden regelmäßig recht niedrige Strafen ausgesprochen. Höher sind die Verurteiltenzahlen hingegen bei der räuberischen Erpressung (im Jahr 2018 gab es hier 2246 Verurteilungen und im Jahr 2016 2393 Verurteilte).[59] Was ihre Rolle in der Wirklichkeit angeht, wird in der kriminologischen Literatur allerdings darauf hingewiesen,[60] dass man eine grobe Unterteilung in eine – zahlenmäßig bis zum Beginn der 1990er-Jahre im Vordergrund stehende – Schweigegelderpressung (Chantage) und eine Bedrohungserpressung (ausbeuterische Erpressung)[61] vornehmen kann. Verstöße des Erpressungsopfers, insbesondere gegen die herrschende Sexual- und Steuermoral, machen das Opfer insbesondere für eine Schweigegelderpressung anfällig. Dabei ist allerdings eine geringe Anzeigebereitschaft zu vermuten – und damit eine hohe Dunkelziffer. Die Bedrohungserpressung dürfte dagegen häufiger angezeigt werden, wenn man von der Zuhälterei als einem alten Prototyp der modernen Schutzgelderpressung absieht. Weil es der Polizei in aller Regel gelingt, den Erpresser in diesen Fällen zu überführen, ist die Bedrohung sicherer durch die Anzeige des Erpressers als durch die Erfüllung der erpresserischen Forderungen abzuwenden. Auffallend ist aber dennoch der kontinuierliche Anstieg der (einfachen) Erpressungen,[62] welcher in der polizeilichen Kriminalstatistik bis etwa ins Jahr 2000 sichtbar wird (1980 = 3154 Fälle; 1990 = 2680 Fälle; 1992 = 3956 Fälle; 1994 = 5679 Fälle; 1996 = 6791 Fälle; 1998 = 7026 Fälle). Der Trend nahm dann zwischendurch wieder etwas ab (2004 = 6127 Fälle; 2005 = 5862 Fälle; 2006 = 5838 Fälle; 2008 = 5185; 2010 = 5528 Fälle).[63] Im Jahre 2011 ist die Zahl jedoch wieder auf 7149 gestiegen.[64] Dieser СКАЧАТЬ