Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher страница 9

Название: Die Reise nach Ameland

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750220447

isbn:

СКАЧАТЬ schon die Erinnerung daran geradezu peinlich.

      An seine Depressionen, die in eben diesem halben Jahr so unerträglich geworden waren, dass die Eltern ihn zu einer Psychiaterin geschickt hatten, konnte er sich mittlerweile allerdings wieder sehr gut erinnern. Aber auch dieser Arztbesuch war eigentlich nur noch als eine Art Lachnummer in seinem Gedächtnis gewesen. Es war wirklich wie im dümmsten Psychiaterwitz, hatte er zu Michel gesagt; diese Frau kann nur Psychiater geworden sein, weil sie selber dringend einen brauchte.

      Michel hatte diese Bemerkung überhaupt nicht witzig gefunden. Wenn ich mir vorstelle, andere Männer sind alles, nur weil sie hetero sind, und ich bin gar nichts, nur weil ich schwul bin, dann würde ich auch depressiv. Ich bin überzeugt davon, dass deine Depressionen nur eine Reaktion darauf waren, dass du dein Schwulsein auch damals schon nicht akzeptiert hast.

      Das hätte ich gar nicht gekonnt, weil ich damals nicht mal das Wort schwul kannte.

      Ach hör doch auf! Das glaube ich dir nicht. Ich glaube eher, du hast dieses Wort gar nicht kennen wollen. Statt dessen gehst du lieber zum Psychiater und lässt dir deine Beschwerden in einer Sprache erklären, die auch die Gesellschaft akzeptiert. Du bist natürlich nicht schwul, du bist nur exogen depressiv. Aber so etwas rächt sich auf Dauer. Und dann macht man halt mühevolle Umwege.

      Obschon die Initiative eigentlich immer von ihm selber ausgegangen war, hatte es ihn irgendwann maßlos wütend gemacht, dass sein eigenes Leben für Michel anscheinend so klein und so gewöhnlich war, dass der sich ganz offensichtlich immer anmaßen konnte, es mit einem Mal überblicken und die Fehler darin aufzeigen zu können. Er hatte begonnen, diese Art des Denkens zu hassen, das die Vergangenheit sezierte, die einzelnen Teile bewertete und neu zusammensetzte, um sie dann als plausible Erklärung der Gegenwart heranziehen zu können. Mit diesem Denken erreichte man immer nur eines: man hatte Recht. Wenn ich die Wahl hätte, mir einen Vortrag über die Gefahren der Scheiße anzuhören oder selber reinzutreten, hatte er Michel schließlich gesagt, dann würde ich immer selber reintreten.

      Ja eben, hatte der diese Vorlage sofort aufgegriffen. Darum steckst du ja jetzt auch so tief drin. Am meisten hatte ihn an jenem Tag geärgert, dass Michel sich anschließend mehrfach für diese Bemerkung entschuldigt hatte.

      In der Erinnerung an die Zeit mit Klaus Ferner waren nur Bilder gewesen, nebulös und unwichtig, die in den Gesprächen mit Michel zunächst zu kurzen Episoden, schließlich zu einer Geschichte zusammengewachsen waren, die man bei Bedarf hervorkramen konnte, wenn man denn das Bedürfnis verspürte, sie zu erzählen. In dem formlosen Erinnerungsbrei mit seiner ungeordneten Abfolge von Bildern, Stimmungen, Episoden waren den einzelnen Elementen neue Bedeutungen und Gewichtungen unterstellt worden, bis er selber nicht mehr hatte sagen können, was von alledem Realität und was bloße Interpretation gewesen war.

      Das eindringlichste Bild war die blaue, engsitzende Cordhose, die, obschon bereits erheblich verschlissen, Klaus Ferner anscheinend immer getragen hatte. Diese Hose saß mit weit gespreizten Beinen und locker auf einem Fahrradsattel. Einen eindeutigen Anfang konnte es in der Erinnerung schon deshalb nicht geben, weil da immer die Tatsache blieb, dass sie schon vorher jahrelang nebeneinander gewohnt hatten, ohne einander überhaupt wahrzunehmen.

      Es war tatsächlich so: wenn eine Geschichte denn irgendwo beginnen musste, dann musste sie mit dieser blauen Cordhose beginnen. Und mit dem Fahrrad, auf dem Klaus Ferner saß, ein Bein auf der Pedale, ein Bein lässig auf dem Sims des Reihenhauses über den Kellerfenstern abgestützt. Wenn man sich nun noch einen lauen Frühlingsabend vorstellte, machte es tatsächlich keine Mühe, sich Klaus Ferner ins Gedächtnis zurückzurufen. Es musste im Frühling gewesen sein, weil alles nur ein halbes Jahr gedauert und die Katastrophe im Herbst stattgefunden hatte. Über die welken Blätter und die von Kindern mit Stöcken von den Bäumen geworfenen Kastanien war er Klaus letztendlich mit dem schlechtesten Gewissen der Welt nachgelaufen, um sich zu entschuldigen, irgendetwas klarzustellen, wieder hinzubiegen, obschon doch ganz klar gewesen war, dass es vorbei war, aus und vorbei für alle Zeit.

      Auch nun wollte er, dass ihm die Erinnerung an diese Dinge eher lästig, der Mühe eigentlich gar nicht wert war, dramatisiert zu werden. Vor allem war da immer noch ein Punkt gewesen, den er auch Michel gegenüber nur in stark alkoholisiertem Zustand hatte zugeben können: er habe zwar diesen Klaus auf einen für ihn selber unerreichbaren Sockel gestellt, aber genau das sei ihm damals immer bewusst gewesen. Das, was dieser Junge für ihn bedeutet habe, sei seine eigene Gedankenkonstruktion gewesen, sein intimstes Geheimnis sozusagen. Fast wie ein Objekt sei der für ihn gewesen, an dem er seine eigenen Vorstellungen in der Realität habe ausprobieren wollen. Seinen Klaus Ferner habe es für andere nie gegeben, den habe es eigentlich überhaupt nicht gegeben, nur eben für ihn selber. Und in Wahrheit habe er sich Klaus Ferner immer haushoch überlegen gefühlt, sei der ihm sogar oft dumm und geradezu primitiv vorgekommen. Wenn es überhaupt irgendetwas Faszinierendes an diesem Jungen gegeben habe, dann sei es gerade diese Primitivität, die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Kerl einfach so war, wie er war, ohne Wissen über sich, ohne Alternative zu sich selber.

      Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann wirst du immer arrogant und zynisch, hatte Michel nur geantwortet.

      Er musste plötzlich loslachen. Wahrscheinlich wurden die meisten Menschen ironisch und zynisch, wenn es um die Erinnerung an die erste große Liebe ging; und ebenso wahrscheinlich taten sie das nur, weil sie diesem Gefühl nie mehr so schutzlos ausgeliefert sein wollten.

      Dann kamen ihm seine Ideen augenblicklich pathetisch und geradezu albern vor. Erste große Liebe! Was hatte das mit Klaus Ferner und ihm zu tun? Michel hatte das einmal gesagt: also war doch dieser Klaus deine erste große Liebe.

      Du warst und bist meine erste und einzige große Liebe, das hatte er Lisa immer wieder gesagt und es immer auch genau so gemeint.

      Das ist nur typisch für verheiratete Schwule, hatte Michel lapidar dagegen gehalten. Ich sage dir doch, du musst Leute treffen, die auch in deiner Situation sind. Die meisten verheirateten Schwulen sind bei der allerersten Frau hängen geblieben, weil sie bei der die Erfüllung ihres größten Wunsches gefunden haben: nie mehr schwul sein zu müssen. Er verspürte plötzlich eine unglaubliche Wut auf Michel; anscheinend konnte er dem nur gefallen, wenn er in diesem erbärmlichen Sumpf saß, in dem er sich lächerlich und unmöglich gemacht hatte und aus dem ihn nur ein gewisser Michel Rijnders retten konnte.

      Dass irgendeine dumpfe Form von Sexualität das alles bestimmende Element in seiner Beziehung zu Klaus Ferner gewesen war, daran gab es natürlich nichts zu deuteln. Aber er selber hatte dabei die Regie geführt, hatte Versuchsabläufe minutiös geplant und durchgeführt wie bei einem Tierversuch, und niemals war dabei irgendetwas eindeutig gewesen; ganz im Gegenteil: ein Wort wie schwul oder homosexuell hätte augenblicklich alles beendet.

      Irgendwann hatte er diesen Jungen eben nicht nur wahrgenommen, sondern diese Person mit ganz bestimmten Bedeutungen verbunden, die aber in dem Maße, wie sie zwingender und fordernder wurden, auch immer weniger greifbar geworden waren, weil ihnen einfach die Worte gefehlt hatten. Wahrscheinlich hatten sie - bewusst oder unbewusst - diese Worte auch gemieden wie der Teufel das Weihwasser; denn schon der geringste Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden, war Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre häufig noch rigoros abgeblockt worden: Als er einmal Klaus Ferners Eltern gegenüber diesen als seinen besten Freund bezeichnet hatte, für den er alles tun würde, war ihm dessen Vater, ein Polizeibeamter, ziemlich unwirsch über den Mund gefahren und hatte den Rahmen des Möglichen abgesteckt: Sagen wir mal, ihr beide seid gute Kumpel. Mein bester Freund, das klingt mir zu feminin.

      Wieso hatte der Kerl so etwas überhaupt gesagt?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, und dann verdrängte er diese Frage, weil sie ihm peinlich war.

      Wenn überhaupt, dann war ihr Verhältnis eher zufällig und scheinbar ohne jede Absicht auf den Punkt gebracht worden. Aber eben СКАЧАТЬ