Название: Privatsache
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750219007
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Und bei jedem Erwachen wusste Börner wieder, dass alles das nicht angeblich passiert war: Nie würde er den Augenblick vergessen, als zwei Angestellte ihn schließlich mit Gewalt aus dem Haus geworfen hatten. Vor allem nicht die teils mitleidigen, zumeist aber höhnischen Blicke der Hotelgäste, für die sein Auftritt ganz sicherlich das Highlight ihres Urlaubs gewesen war.
Er hasste solche Leute.
Vielleicht war es dennoch nur die Scham gewesen, die ihn schließlich veranlasst hatte, auch das eigene Hotelzimmer bereits Stunden vor der Abfahrt des Busses zum Flughafen zu verlassen. Mit seinem Gepäck hatte er in aller Herrgottsfrühe am Strand der Cala Ferrara gesessen und stundenlang das Hotel beobachtet, auf dessen Balkon er den Mann gestern gesehen hatte. Erst als er hatte befürchten müssen, den Bus zum Flughafen zu verpassen, hatte er sich mit seinem Gepäck auf den Weg gemacht.
Mit blauer Sprühfarbe musste in der vergangenen Nacht jemand auf die zum Ort führenden Treppenstufen etwas geschrieben haben; er glaubte mit Sicherheit sagen zu können, dass das Geschreibsel am vergangenen Abend dort noch nicht gewesen war: Es wäre ihm auf jeden Fall aufgefallen:
Cada momento es unico
No hay instantes vacias
Y las horas pasan
Como minutos a tu lada
Auch mit großem Latinum war ihm nicht gänzlich klar, was dieser Text bedeutete; er würde auf jeden Fall in einem spanischen Wörterbuch nachschlagen.
5
Schon immer waren Börners Probleme für seinen Ex-Kollegen Volker Milewski völlig unbegreiflich gewesen. Auch nach Alcudia wäre der nie gefahren, weil da zu wenig los war, und einen gewissen Chopin hätte er bestenfalls als französischen Weichkäse identifiziert.
Außerdem fuhr Milewski überhaupt nicht mehr nach Mallorca. Dorthin war er vor 15 und mehr Jahren mal gefahren; heute traf man doch da seine Putzfrau, und damit hatte das Ganze einfach kein Niveau mehr. Milewski plante Urlaube in Kenia, Australien oder Sri Lanka. Das war natürlich auch eine Frage des Geldes, aber davon hatte Milewski genug. Er arbeitete zwar noch bei der Polizei, aber mittlerweile hatten seine Kollegen recht, wenn sie behaupteten, dort verdiene er nur ein kleines Taschengeld. Der Hof in Erkenschwick, den seine Frau vor ein paar Jahren geerbt hatte, brachte nun endlich das, was sie sich von Beginn an davon versprochen hatten: eine Menge Geld. Mittlerweile besaßen sie mehrere Tennisplätze, eine Reithalle, ein Restaurant. Es war eben alles nur eine Frage des unternehmerischen Einsatzes. Heute konnte Milewski über seine früheren Bedenken nur noch lachen: Wenn man erst mal etwas hatte, musste man investieren, und irgendwann konnte man gar nicht mehr verhindern, dass sich das Geld wie von selbst vermehrte. Fünf Angestellte konnte sein Hof mittlerweile beschäftigen; im Sommer würden sie ein paar zusätzliche Arbeitskräfte benötigen.
Im vergangenen Jahr war er gar nicht in Urlaub gefahren. Die Aufgaben eines Unternehmers hatten so etwas einfach nicht zugelassen, und außerdem hatte seine Frau vor neun Monaten das erste Kind bekommen.
Milewski war ein Hüne von Gestalt, war blond, blauäugig, und jeder Opernregisseur hätte ihn sofort als jung Siegfried engagiert, wenn er nur hätte singen können. Aber Milewski hasste jede Form von Theater und war hinreichend damit beschäftigt, er selber zu sein. Und das gelang ihm nicht zuletzt wegen seines Aussehens auch ganz gut. Vor allem bei den Frauen.
In der Länge maß er über einsneunzig, und da in dieser Richtung in seinem Alter an eine weitere Ausdehnung nicht zu denken war, ging er seit ein paar Monaten verstärkt in die Breite. Jeden Donnerstagabend war er in einem exklusiven Fitness-Studio anzutreffen, dessen Besitzer unter der Hand auch Anabolika verkaufte. Natürlich war das riskant, was die Gesundheit anbelangte, und außerdem war es illegal, was niemand besser wusste als Hauptkommissar Volker Milewski. Aber wo kein Kläger, da kein Richter, und weil das Studio keine Muckibude für Proleten war und das Zeug zudem eine tolle Wirkung zeigte, hielten alle Beteiligten den Mund. Mittlerweile brachte Milewski stolze 99 Kilo auf die Waage, und vor allem seine Hemden und Jackets waren allesamt zu eng geworden.
Nur eines konnte Milewski nicht ertragen: wenn nämlich irgendjemand zu sagen wagte, er werde langsam zu fett. Für diese Fälle hatte er immer den gleichen Spruch parat: "Fett ist da gar nix! Alles Muskeln und Samenstränge." Wollte jemand das nicht glauben oder wagte sogar zu lachen, dann ließ Milewski andere mal hinlangen: an seinen Bizeps, seine Brust, die Waden. Der Schwiegervater kniff ihn auf dem Höhepunkt einer feucht fröhlichen Familienfeier einmal sogar in die strammen Arschbacken.
Seit ein paar Tagen hatte Milewski allerdings Probleme: denn plötzlich quälte ihn die Frage, ob diese Donnerstagabende in dem Fitness-Studio nicht letztlich eine Flucht waren. Eine Flucht vor dem Familienleben zu Hause, das er ohnehin noch nie hatte ertragen können. Dieses Baby schrie fast ununterbrochen, Ingrid war nur noch gereizt, aber immer ihm und nie dem schreienden Kind gegenüber, und sogar nachts verhinderte der verdammte Balg, dass er als Ehemann auf seine Kosten kam. Natürlich holte Volker Milewski jedes Mal den ausgefallenen Spaß mit anderen Frauen nach.
In der vergangenen Woche hatte die Schwiegermutter alles auf den Punkt gebracht: Mit dem Kind stimmt doch irgendwas nicht!
Er hasste seine Schwiegermutter leidenschaftlich, weil die in ihm noch nie mehr gesehen hatte als den kleinen Proleten aus einer Bergarbeiterfamilie, der mit dem Job bei der Polizei doch schon das Äußerste erreicht hatte; dessen unendlich peinlicher Vater vor drei Monaten endlich aufgrund seiner Sauferei von der Bildfläche verschwunden war; der aber vor allem auf Kosten der Tochter eines Vorsitzenden Richters am Landgericht nach oben kommen wollte. Es gab tausend Gründe für Milewski, die Alte zu hassen; nur mit der Bemerkung über das Baby hatte sie einfach recht gehabt.
Seit ein paar Tagen lief Ingrid nun mit dem Kind von einem Arzt zum nächsten, damit herausgefunden wurde, weshalb ein neunmonatiges Baby auf gar nichts reagierte, weshalb es eigentlich gar nichts anderes tat, als 24 Stunden täglich zu schreien.
Dieses traute Familienleben war auch der Grund, aus dem Milewski auf die Arbeit bei der Polizei auf keinen Fall verzichten wollte. Finanziell war dieser Job für ihn natürlich uninteressant; aber er brauchte einfach den Kontakt zu seinen Kollegen, diese acht bis zehn Stunden jeden Tag, die er nicht zu Hause verbringen musste.
Die Kollegen sahen das mittlerweile allerdings ganz anders. Niemand von ihnen würde es bedauern, wenn Milewski den Dienst quittierte. Früher war das ganz anders gewesen, da war Milewski bei allen beliebt gewesen, ein dufter Kumpel eben, der jeden Unsinn mitmachte oder sogar ausheckte. Aber seit einem Jahr war er der stellvertretende Leiter des 1.K. der Gelsenkirchener Kripo, und vieles hatte sich seither verändert. Es geschahen sogar Dinge, die früher ganz undenkbar gewesen wären: Milewski brüllte Kollegen an und schikanierte sie, wenn die es beispielsweise nur wagten, irgendwelche Wünsche bezüglich des Dienstplanes zu haben. Und wenn es einmal Druck von oben gab, wurde der von Milewski doppelt und dreifach nach unten weitergegeben. Einige Kollegen mutmaßten auch ganz offen über die Gründe für solche Veränderungen: Milewski war der Erfolg zu Kopf gestiegen, er hatte anscheinend vergessen, wo er herkam. Sein Verhalten sei außerdem typisch für jemanden, der unsicher war, weil СКАЧАТЬ