Название: Privatsache
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783750219007
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Aber zumindest das würde er schon herausfinden. Bereits vor Tagen hatte er sich vorgenommen, nachzuforschen, ob diese Geschichte tatsächlich so passiert war, wie sie in dem Zeitungsartikel beschrieben war. Der Tatort lag schließlich in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Wie das zu tun war, das wusste er zwar noch nicht, aber nun machte es ihm Spaß, sich erste Pläne zurechtzulegen, und plötzlich schien ihm selbst eine Bahnfahrt von Düsseldorf nach Gelsenkirchen etwas zu sein, das man nicht einfach dem Zufall überlassen konnte. Er stand auf und informierte sich anhand der zahlreichen Fahrpläne. Dann war er ärgerlich; er würde erst um kurz vor halb zwölf in Gelsenkirchen ankommen.
Um kurz vor halb zwölf war er dann nicht nur ärgerlich. Lohnte sich überhaupt irgendeine Anstrengung, um letztlich hier anzukommen?
Auf den Bahnsteigen war nicht ein Mensch zu sehen. Den fast leeren Zug, der nun aus welchen Gründen auch immer noch bis Haltern weiterfuhr, hatte er als einziger verlassen. Mit der Rolltreppe fuhr er in die ebenfalls menschenleere Bahnhofshalle hinunter. Zwei türkische Jugendliche, die in diesem Augenblick von der Stadtmitte her die Halle betraten, um in die Neustadt – auch Klein-Istanbul genannt - zu gelangen, konnten selbst durch noch so lautes Gegröle kein Leben in diese städtebauliche Scheußlichkeit bringen. Ihr übermütiges Gelächter hörte sich eher an wie ein höhnischer Kommentar.
Irritiert nahm Börner seinen Koffer und ging los. Zur Haltestelle der Stadtbahn brauchte man wohl erst gar nicht zu gehen. Um diese Zeit fuhr bestimmt keine Bahn mehr. Außerdem hatte er noch etwas vor.
Er ging über die völlig ausgestorbene Bahnhofstraße. Außer Kaufhäusern gab es hier wirklich nichts. Keine Kneipe, kein Restaurant, gar nichts. Auch als er auf der Ebertstraße in Richtung Musiktheater ging, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur aus einer Spielhölle kurz vor dem Theater waren Stimmen zu hören. Auch um diese Zeit saßen noch eine ganze Reihe von zumeist jungen Männern vor den blinkenden und klingelnden Automaten und versuchten das, was sie für das Glück hielten. Wenn er es in seiner weiteren Karriere tatsächlich noch zum Bombenleger bringen sollte, dachte Börner, dann würde er bei diesen Spielhöllen anfangen.
Am Theater bog er nach links. Auf dem Weg zu seiner Wohnung war das zwar ein Umweg, aber in den Grünanlagen hinter dem Theater begann der Kussweg. Noch in Düsseldorf hatte er sich vorgenommen, an dem Altenheim vorbeizugehen, auch wenn nun der Koffer immer schwerer und die Luft empfindlich kühl wurde.
Er folgte der vierspurigen Overwegstraße, weil er nicht durch die dunklen und verlassenen Anlagen laufen wollte. An der Einmündung der Grenzstraße blieb er einen Augenblick lang stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das Polizeipräsidium.
Hier war er fast anderthalb Jahr lang jeden Morgen treu und brav zum Dienst erschienen. Er war damals beim 1.K. gewesen, zuständig für Kapitalverbrechen, und wenn es so etwas überhaupt gab, dann war er ein guter Polizist gewesen.
Er spürte plötzlich eine tiefe Abneigung gegen diese Erinnerungen, und als er sich dann auch noch sagte, dass das alles nun schon über sechs Jahre her war, ging er schnell weiter.
Die Erinnerungen ließen sich nicht verdrängen.
Vielleicht heilte die Zeit ja tatsächlich alle Wunden. Aber dann brauchte man viel Zeit. Sehr viel Zeit.
Er dachte an seinen Kollegen Milewski und glaubte augenblicklich, dass die Zeit keine Wunden heilte.
Langsam überquerte er die Grenzstraße, passierte den Schulhof der Lessing-Realschule und stand dann vor dem Straßenschild, das er heute unbedingt noch hatte sehen wollen: Kussweg.
Börner sah auf seine Armbanduhr. Es war inzwischen zwanzig nach zwölf.
Der Kussweg sah um diese Zeit nicht sehr einladend aus. Nur wenige kleine Laternen beleuchteten den Weg. Auf der rechten Seite lag das Altenheim. Der gesamte Komplex schien wie ausgestorben; nur in der Empfangshalle, in die man durch den Hintereingang sehen konnte, brannte noch Licht. Zu sehen war niemand.
Hier war also der Tatort.
Der Klang des Wortes schien ihm plötzlich viel zu harmlos, überhaupt nicht geeignet, das auszudrücken, was er empfand. Allein das Wissen, dass genau hier ein Kapitalverbrechen verübt worden war, hatte ihn immer fasziniert.
Immer wieder ließ Börner seine Blicke über die dunkle Häuserfront streichen. Schließlich ließ er den Koffer auf dem Weg stehen und ging auf den Eingang zu. Noch einmal vergewisserte er sich, dass im Inneren des Hauses kein Mensch zu sehen war, dann drückte er die Klinke der Tür vorsichtig nach unten.
Die Tür war nicht verschlossen.
Als er Stimmen im Haus hörte, zog er die Tür schnell wieder ins Schloss, nahm seinen Koffer und ging weiter. Mehrfach blickte er sich um, weil er sich plötzlich einredete, dass ihm jemand folgte. Er war froh, als er endlich die Grillostraße erreicht hatte. Er bog nach rechts, und an der Kreuzung mit der Kurt-Schumacher-Straße blieb er stehen. Die Ampel zeigte Rot, aber weit und breit war kein Auto zu sehen.
Die Gleise der Straßenbahn auf der Berliner Brücke leuchteten matt im Neonlicht der Straßenlaternen. Irgendwo da auf der linken Seite lag der Schalker Markt, von dem nichts mehr geblieben war als seine Geschichte. Ein kleiner, verwahrloster Platz, halb unter dieser Hochstraße versteckt, die den Verkehr über ein riesiges Industriegelände führte.
Schalke brachte ihn schließlich wieder auf andere Gedanken.
In dieser Saison mussten sie die Rückkehr in die erste Liga einfach schaffen, sonst war es zu spät. Er nahm seinen Koffer und überquerte die menschenleere Straße. In der nächsten Saison kamen schließlich die Vereine aus der DDR hinzu. Wenn Schalke durch die nicht in die 1.Liga kommen sollte, dann musste man sich das mit der deutschen Einheit aber wirklich noch mal in Ruhe überlegen. Endlich hatte er die Leipziger Straße erreicht und stand vor seiner Wohnungstür.
Die Ankunft war dann genau so, wie er sich das auch vorgestellt hatte: Die eigene Wohnung, die er in den vergangenen drei Wochen oft genug vermisst hatte, machte ihn sofort verrückt. Wohin er auch kam, Richard Börner war anscheinend immer schon da! In weiser Voraussicht hatte er vor über drei Wochen einen Kasten Bier gekauft, den er nun gleich zur Hälfte niedermachte. Dabei blätterte er immer und immer wieder die vor seiner Wohnung gestapelten Tageszeitungen durch, als müsse ihm schon längst ein wichtiges Detail entgangen sein.
Das Ergebnis blieb aber enttäuschend. Nun wusste er zwar, dass der Mord im Altenheim tatsächlich am 20.April geschehen war, aber der ganze Rest der Geschichte stimmte anscheinend nicht. Vor allem wurde mit keinem Wort erwähnt, was ihn von Beginn an an dieser Sache interessiert hatte. Da war überhaupt nur diese dürre, fast lächerlich wirkende Notiz im Lokalteil vom 23. April: Am vergangenen Freitag kam es im Altenheim an der Schalker Straße zu einem außergewöhnlichen Mordfall. Ein 80jähriger Bewohner tötete einen ungefähr gleichaltrigen Mitbewohner mit einem Hammer. Die Polizei steht, was das Motiv der Tat betrifft, vor einem Rätsel.
Als Börner endlich völlig betrunken in sein Bett fiel, war es bereits fast sechs Uhr. Draußen war es längst hell geworden, und ein Maitag hatte begonnen, wie man ihn sich schöner nicht vorstellen konnte.
Morgen würde er den ganzen Fall schon auflösen, dachte Börner.
Er fiel in einen nur oberflächlichen Schlaf. Mehrfach wurde er wach und fragte sich jedes Mal, ob er tatsächlich geträumt hatte von dem, was an seinem letzten Abend auf Mallorca angeblich passiert war.
Er war in sein Hotelzimmer zurückgekehrt СКАЧАТЬ